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Evgenia Arbugaeva – Tiksi, 2013

Evgenia Arbugaeva – Tiksi, 2013

Nach fast 20 Jahren kehrte die Fotografin an den Ort ihrer Kindheit zurück: Tiksi in Sibirien. Arbugaeva verknüpft in der Serie, für die sie 2013 mit dem LOBA ausgezeichnet wurde, ihre Erinnerungen in einer besonderen Bildsprache mit der Gegenwart, die Realität verschmilzt mit fiktiven Momenten. Alltägliches wird außergewöhnlich durch den bewusst eingesetzten Blick und die Fantasie eines Kindes.

Der Klang eines sibirischen Märchens: Dieser Eindruck stellt sich schnell ein, verbindet die Fotografin in ihrer eindrucksvollen Farbserie doch dokumentarische und fiktionale Anteile. Das reale Tiksi liegt an der russischen Nordpolarmeerküste in der autonomen Republik Sacha (Jakutien), an der Laptewsee östlich der Mündung der Lena. Einst wichtige Militär- und Wissenschaftsbasis mitten in der sibirischen Tundra, ist die frühere Bedeutung der Hafenstadt längst nicht mehr sichtbar. Mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Wirtschaftskrise der 1990er-Jahre sank die Einwohnerzahl des Ortes dramatisch. Unter harten klimatischen Bedingungen leben dort nur noch rund 5000 Menschen. Durch die Lage am Meer ist das Klima in Tiksi zwar milder als in Zentralsibirien, aber die Durchschnittstemperatur steigt nur in vier Monaten des Jahres – von Juni bis September – über den Gefrierpunkt.

„Ich war acht, als wir Tiksi verließen, aber vergessen konnte ich es nie. Die Landschaft, die Farben, die reinen Kindheitsfantasien haben einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“

Ihre ersten acht Lebensjahre verbrachte Arbugaeva in Tiksi, bevor die Familie nach Jakutsk zog. „Ich vermisste Tiksi sehr, ich konnte die weite Tundra ohne Anfang und ohne Ende nicht vergessen, den starken Wind, der einen an weit entfernte Orte mitzunehmen schien, die Schneestürme und die Polarnacht mit dem magischen Licht, meine Freunde und Nachbarn“, erinnert sie sich. Heute lebt und arbeitet Arbugaeva in London; sie ist weit gereist, doch die Erinnerung an Tiksi blieb stets lebendig. Deshalb entschied sie sich, an den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit zurückzukehren. Gab es diesen Ort wirklich, so wie sie sich an ihn erinnerte? Bei ihrem ersten Besuch in der Stadt traf sie Tanja, die ihre Protagonistin werden sollte: „Das Mädchen saß mit seiner Mutter am Ufer des Meeres in der Nähe eines Feuers und sah sehr traurig aus.“ Ihre älteren Geschwister waren am Tag zuvor fortgezogen. Arbugaeva erzählte ihre eigene Geschichte, und sie stellten fest, dass Tanja wie sie als Kind ein Faible für das Meer und die Tundra hegt – so wurde Tanja ihre Freundin und Begleiterin durch das Tiksi der Gegenwart.

„Mein späteres Leben hat mich an verschiedenste Orte gebracht, ich lebte in großen Städten wie Moskau und New York, reiste ausgiebig, aber stets bewahrte ich mir die Erinnerung an die kleine Stadt Tiksi – meine besondere, meine perfekte Welt.“

Arbugaeva beschreibt einen Ort, der gleichsam melancholisch und doch real ist. Die Realität wird nicht versteckt, verliert aber in den poetischen Kompositionen ihre Härte – ein farbenfrohes Märchen mit Realitätsbezug. „Während der Arbeit am ‚Tiksi’-Projekt versuchte ich, den richtigen Ton für die Serie zu ertasten. Ich suchte die Motive, die den Bildern meiner Erinnerung entsprachen“, erklärt die Fotografin. Und so brauchte es auch zwei Jahre und fünf Reisen, bis sich der Ort so für sie geöffnet hatte, dass sie ihre preisgekrönte Serie abschließen konnte.

(Text aktualisiert 2020)

Interview mit Evgenia Arbugaeva im Leica Camera Blog

Evgenia Arbugaeva

Evgenia Arbugaeva wurde 1985 geboren. Nach ihrem BA-Abschluss in Moskau absolvierte sie 2009 am International Center of Photography in New York das Programm für Fotojournalismus und Dokumentarfotografie. Sie ist Fellow der National Geographic Society Storytelling und Gewinnerin des ICP Infinity Awards. Ihre Arbeiten wurden international ausgestellt und erschienen u.a. in den Magazinen „National Geographic“, „Time“ und „The New Yorker“. Sie lebt und arbeitet als freie Fotografin in London.

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