Emily Garthwaite: Tears of the Tigris
Der Irak zählt zu den am stärksten von den Folgen des Klimawandels betroffenen Ländern der Welt. Extreme Hitzeperioden und immer weniger Niederschläge machen Wasser zu einer wertvollen und umkämpften Ressource. Entlang des Flusses Tigris entdeckt die Fotografin Emily Garthwaite neben den ökologischen und geopolitischen Auswirkungen auch das tiefe Erbe und die Widerstandsfähigkeit der Menschen in der Region.
Der Tigris entspringt im Osten der Türkei und schlängelt sich 1900 Kilometer bis zur syrischen Grenze und durch den Irak, bis er sich dort mit dem Euphrat im Schatt al-Arab vereinigt und in den Persischen Golf mündet. Was der im Irak lebenden britischen Fotografin 2019 noch als ein nahezu unmögliches Unterfangen erschien, setzte sie nach Jahren der Planung in die Tat um. Zusammen mit Gleichgesinnten fuhr sie 2021 drei Monate lang per Boot über den Fluss – von der Quelle bis zum Meer. In den darauffolgenden Jahren kehrte Garthwaite an viele Stationen an den Ufern des Tigris zurück, um einerseits den Verlauf der Zerstörung sowie die beständige Schönheit zu dokumentieren. 2023 entschloss sich die Fotografin, die Reise erneut auf sich zu nehmen. Die Idee für „Tears of the Tigris“ war geboren.
„Bei meiner Arbeit geht es immer darum, zu zeigen, was trotz allem überlebt hat, und dabei die Menschen auf die ernste Situation aufmerksam zu machen, in der sich der Tigris befindet, ohne die Hoffnungslosigkeit zu fördern.“
Der Irak, der auch als Wiege der Zivilisation bezeichnet wird, steht vor einer der größten Herausforderungen unserer Zeit. Die Folgen des durch den Menschen verursachten Klimawandels sind dort deutlich zu spüren. Im Sommer klettern die Temperaturen über 50 Grad Celsius, und durch ausbleibende Niederschläge und Missernten schwindet die Lebensgrundlage der rund 30 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner im Einzugsgebiet des Tigris. Um den Fluss, wo früher alles im Überfluss gedieh, herrscht nun Dürre. Das immer knapper werdende Wasser ist längst ein Politikum, vor allem, weil es wie im Falle des Tigris mehrere Länder durchfließt. Der Fluss stehe sinnbildlich für die Misswirtschaft mit dem Wasser, sagt Garthwaite. Die Dämme in der Türkei und im Iran begrenzen die Wasserzufuhr radikal, und im Irak ist die Wassergewinnung ineffizient. Der Tigris ist wohl einer der am stärksten militarisierten Flüsse der Welt, und trotzdem leiten Industriekonzerne und Ölraffinerien ihre Abwässer direkt in den immer schwächer werdenden Flusslauf. Auch Dörfer, Städte und Gemeinden pumpen ihre Abfälle ungefiltert hinein, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Umweltschützerinnen und Aktivisten, die auf die Missstände aufmerksam machen, werden bedroht, gefoltert oder aus dem Land vertrieben.
„Ich habe diese Arbeit auch für die Geschichte gemacht. So wie es heute aussieht, wird der Fluss nicht überleben. Damit das Leben entlang des Flusses in den kommenden Jahrzehnten weitergehen kann, sind gewaltige Veränderungen erforderlich.“
„Aufgrund des sich rasant ändernden Klimas im Irak haben wir Orte für immer verloren“, erklärt Garthwaite. Die Abwanderung in weniger betroffene Gebiete habe bereits begonnen, einige Orte im Süden des Landes seien schon jetzt verlassen. Trotzdem konzentriert sich die Fotografin in ihrer bildgewaltigen Serie „Tears of the Tigris“ auf die Aspekte des Flusses, die bleiben. Die Kulturregionen im Umland des Tigris zeugen von jahrtausendealter Geschichte und von Traditionen, deren Schönheit es zu bewahren gilt. „Meine Beziehung zum Tigris hat sich in den letzten vier Jahren stark verändert. Ich liebe den Fluss und habe dort einige der schönsten Erlebnisse meines Lebens gehabt“, so die Fotografin. Garthwaite erzählt von Schildkröten in den Marschlandschaften, von Hyänen, Wildschweinen und Flamingos, die im Fluss tranken. Sie spazierte zwischen den Königsgräbern in Assur, der ehemaligen Hauptstadt des assyrischen Reiches, tanzte mit Freunden am Ufer des Flusses, lauschte uralten Sagen, Liedern und Gedichten und spürte die Freiheit, die sich in ihren Bildern unwiderruflich widerspiegelt.
Vorgeschlagen wurde Emily Garthwaites Serie von Yamna Mostefa, die zur diesjährigen Gruppe der 80 internationalen LOBA-Nominatoren gehört.
Emily Garthwaite
1993 geboren, studierte Fotojournalismus und Dokumentarfotografie an der Universität Westminster in London. Als multidisziplinär arbeitende Fotografin konzentriert sie sich hauptsächlich auf ökologische und humanitäre Themengebiete wie Vertreibung und das Leben in Koexistenz mit der Natur. Garthwaite wurde unter anderem von Forbes 30 Under 30 sowie als Wildlife Photographer of the Year ausgezeichnet. Ihre Arbeit wurde international ausgestellt und in zahlreichen Publikationen veröffentlicht. Aktuell lebt sie im Irak.
Porträt: © Leon McCarron