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Serghei Duve

Serghei Duve: Bright Memory

In der Serie wird aus einer persönlichen Spurensuche und Dokumentation des Privaten eine Erzählung über komplexere Zusammenhänge mit politischer Brisanz: Der in der Republik Moldau geborene deutsche Fotograf zeigt die engen Verbindungen seiner Familie zur alten Heimat Transnistrien, einem international nicht anerkannten Gebiet. Eine vielschichtige Arbeit über Identität und Herkunft, Alltag und Politik.

Ein Land mit eigener Regierung, Währung und Verwaltung für rund 375 000 Bewohnerinnen und Bewohner, das jedoch von keinem anderen Staat, keiner internationalen Organisation als souverän anerkannt ist: Transnistrien – ein an der moldauisch-ukrainischen Grenze nördlich des Flusses Dnister gelegenes Gebiet, das offiziell als Bestandteil der Republik Moldau gilt, sich aber bereits 1990 in der Nachfolge der zerfallenden Sowjetunion für unabhängig erklärte und heute ausschließlich von Russland gestützt wird.
Für die Familie des Fotografen Serghei Duve ist Transnistrien aber weit mehr als nur ein Staat mit ungeklärtem Status: Auch seit ihrer Ausreise nach Deutschland vor 25 Jahren blieb es für die Eltern des Fotografen die Heimat, in die man in jedem Sommerurlaub reist, um die Familie und Freunde zu besuchen. Die gesamte Region ist von Migration geprägt – die einen ziehen in Richtung Westen, die anderen nach Russland. So sinkt die Einwohnerzahl beständig, doch die emotionale Bindung bleibt für die meisten existenziell wichtig. Ein Gefühl, das sich für Duve am besten in der russischen Redewendung des „hellen Gedächtnisses“ (swetlaja pamjat) ausdrücken lässt, die nach dem Tod eines geliebten Menschen benutzt wird und für die Schönheit und Wärme der Erinnerungen steht, die nach dem Verlust bestehen bleiben. Der Fotograf hat über viele Jahre ein ähnliches Gefühl zur verlassenen Heimat in seiner eigenen Familie erlebt.

„In meiner Fotografie versuche ich, das vertraute und alltägliche Leben an einem Ort zu zeigen, der von Nostalgie, Teilung und Komplexität geprägt ist.“

Auch wenn seine Eltern bereits im Jahr 2000 nach Hannover zogen, fühlen sie sich noch immer russisch und betrachten Transnistrien als ihre eigentliche Heimat, als Sehnsuchtsort. Durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist die Situation im Land nicht einfacher geworden, und Transnistrien erscheint wie ein Spiegelbild anderer umstrittener, territorial nicht gefestigter Gebiete. Das Private ist politisch – in der Familie des Fotografen prallen unterschiedliche Meinungen und Haltungen zur aktuellen Situation aufeinander. Wer lässt sich von russischen Medien leiten, wer von internationalen und wessen Informationen wiegen mehr? Die vertraute Nähe ist nun umso mehr Diskussionen über den Status des Landes und ebenso über die Kriegssituation in der Ukraine ausgesetzt. Davon erzählen auch die Bilder der Serie. Allerdings nicht vordergründig, denn zunächst sieht man ganz alltägliche Begegnungen und Beschäftigungen. Und doch geht es bei den Gesprächen immer auch um die Zukunft, um Fragen der Zugehörigkeit, manchmal ganz konkret um den Wehrdienst oder die Folgen des nahen Krieges für das eigene Leben.

„In meiner Arbeit versuche ich, über das Persönliche zu berichten, aber auch auf größere Themen aufmerksam zu machen.“

Aus den stillen Aufnahmen entwickelt sich eine größere Dokumentation über einen historischen Moment. „Wenn ich über meine Familie berichte, dann ist das erst einmal nur die Geschichte meiner Familie“, so Duve, „aber es ist nun einmal so, dass andere Familien Ähnliches erleben und empfinden.“ In seinen Bildern gibt der Fotograf den widersprüchlichen Realitäten Raum, er verbindet in den Porträts und Stillleben die alltägliche Realität mit Gefühlen der Nostalgie und Melancholie, dem Gefühl der Wärme der Erinnerung, aber auch mit der herausfordernden eigenen Positionsbestimmung.

Vorgeschlagen wurde Serghei Duves Serie von der Hochschule Hannover, Lehr- und Forschungsbereich Fotojournalismus und Dokumentarfotografie.

Serghei Duve

wurde 1999 in Chișinău, Moldawien geboren. Seine Eltern zogen mit der Familie nach Deutschland, als er ein Jahr alt war. Seitdem besuchte er deutsche Kindergärten und Schulen, während er in einem russischen Haushalt aufwuchs und mit seinen Eltern Russisch sprach. Sein Interesse an der Fotografie begann, als er zu seinem zehnten Geburtstag seine erste Kamera erhielt. Seit 2021 studiert er an der Fachhochschule Hannover den Studiengang Visual Journalism and Documentary Photography.

Porträt: © Alexander Duve