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Gonçalo Fonseca – New Lisbon

Gonçalo Fonseca – New Lisbon, 2020

Der Leica Oskar Barnack Award Newcomer 2020 geht an den portugiesischen Fotografen Gonçalo Fonseca. Für seine Serie „New Lisbon“ wurde er im Jubiläumsjahr des LOBA in der Nachwuchskategorie ausgezeichnet. Als Gewinner des Newcomer Awards erhält Gonçalo Fonseca einen Fotoauftrag, ein zweiwöchiges Tutoring im Headquarter der Leica Camera AG in Wetzlar sowie eine Leica Q im Wert von rund 5.000 Euro.

Der Fotograf schildert in seiner Serie die aktuell dramatische Wohnungssituation in Lissabon und zeigt anhand von Einzelschicksalen die Folgen einer fortschreitenden Gentrifizierung. Durch die explodierenden Immobilienpreise in der Hauptstadt haben bereits über 10.000 Mieter ihre Wohnungen verloren.

Etwa sechs Millionen Menschen besuchten 2019 in ihrem Urlaub die Hauptstadt Portugals. Damit gehört die 500.000-Einwohner-Stadt zu den beliebtesten Reisezielen in Europa. Wer als Städtetourist in die Altstadt Lissabons kommt und dort ein günstig vermitteltes Appartement bewohnt, wird sich vermutlich wenig Gedanken über die Vorgeschichte seiner Unterkunft oder die ehemaligen Mieter machen. Mit der steigenden Beliebtheit Lissabons hat sich auch der Wohnungsmarkt rasant verändert. Lange Zeit hatten Hausbesitzer auf Sanierung und Renovierung ihrer Immobilien verzichtet, doch mit der Liberalisierung des Wohnungsmarktes während der Wirtschaftskrise rollte eine extreme Spekulationswelle durch die Stadt: Investmentfonds behandelten Häuser schlicht als Vermögenswerte, ohne Rücksicht auf die Bewohner. Die Mieten stiegen stetig, Häuser wurden verkauft und oft in Ferienwohnungen umgewandelt, ohne dass die Stadtverwaltung eingriff und ohne dass für die entmieteten Bewohner Ersatz angeboten werden konnte. Die Zahl der registrierten Ferienappartements stieg zwischen 2011 und 2018 von 500 auf rund 18.000. Tourismusboom, Immobilienspekulation und die fortschreitende Gentrifizierung verdrängten Tausende von Mietern, die oft ihr ganzes Leben in den alten Häusern gewohnt hatten. Viele von ihnen wurden obdachlos oder aus der Not heraus zu Hausbesetzern. Den desolaten Alltag dieser Menschen nahm der Fotograf in seiner Serie in den Blick.

„Ich gehe sehr engagiert an meine Arbeit und an die Menschen heran, die ich fotografiere. Ich bin mit fast allen in Kontakt geblieben, die den mutigen Schritt gewagt haben, ihr Leben hier in Lissabon mit mir zu teilen.“

Der in Lissabon geborene und aufgewachsene Fotograf hat in den letzten Jahren den Veränderungsprozess seiner Stadt genau verfolgt: „Als ich aufwuchs, hatte ich das Gefühl, dass die Stadt eine Art vergessener Schatz ist, mit ihrem schönen Wetter, dem erstaunlichen Essen und dem unverwechselbaren Charakter, und ich fragte mich oft, warum nicht mehr Touristen in die Stadt kamen.“ Umso stärker fiel Fonseca der radikale Umbruch seiner Stadt nach einem Auslandsaufenthalt auf: „Einen großen Teil des Jahres 2018 war ich in Indien, um an einem Projekt zu arbeiten, und als ich zurückkam, war ich beeindruckt davon, wie schnell sich meine Stadt aufgrund ihrer weltweit boomenden Popularität veränderte.

Ich erlebte, wie meine Lieblingsrestaurants und -läden schlossen und Geschäfte, die sich ausschließlich auf Touristen konzentrierten, an denselben Orten entstanden. Die Ungleichheit nahm zu und es wurde für Familien mit niedrigem Einkommen immer schwieriger, die Miete zu zahlen. Ich hatte das Gefühl, gegen die Zeit zu kämpfen, da so viele Dinge geschahen und sich die Stadt so schnell veränderte, dass die Auswirkungen dieser Veränderungen dokumentiert werden mussten.“

Seine Serie „New Lisbon“ ist noch nicht abgeschlossen, Fonseca will auch weiterhin die Veränderungs- und Verdrängungsprozesse in seiner Stadt begleiten. Seine Bilder sind weit mehr als Dokumentationen, sie leben von dem persönlichen Engagement des Fotografen: „Ich halte es für meine Pflicht, für die Menschen da zu sein, auch wenn ich meine Aufnahmen im Kasten habe. Das bringt eigene Herausforderungen mit sich, aber der Schlüssel zu wichtigen Bildern sind meiner Meinung nach oft die richtigen Verbindungen.“

Gonçalo Fonseca

Gonçalo Fonseca wurde 1993 in Lissabon geboren. Nach seinem Journalismus-Studium an der Katholischen Universität in Lissabon (2011–2014) beschloss er, sich ganz der Fotografie zu widmen, und absolvierte 2015 bis 2016 ein Postgraduiertenstudium zum Fotojournalisten an der Autonomen Universität in Barcelona. Seit 2017 berichtet er aus Spanien, Portugal, China und Indien für zahlreiche internationale Magazine und wurde bereits mehrfach ausgezeichnet.

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Porträt: © Gonçalo Fonseca