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Claudine Doury – Die letzten Nomaden Sibiriens, 1999

Claudine Doury – Die letzten Nomaden Sibiriens, 1999

Für ihre mit dem Leica Oskar Barnack Award ausgezeichnete Serie unternahm die französische Fotografin mehrere Reisen vom russisch-chinesischen Grenzfluss Amur bis in die Regionen nördlich des Polarkreises und fotografierte die letzten dort lebenden Nomadenvölker. Sie beschäftigte sich intensiv mit den Traditionen der Bewohner der sibirischen Region und lieferte dabei auch ein faszinierendes Bild der unendlichen Weite des Landes.

Schon Anfang der 1990er-Jahre war Doury erstmals nach Russland gereist, bevor sie den äußersten Norden des Landes erkundete und hierbei Tausende von Kilometern zurücklegte, um das Leben und die Traditionen der dort lebenden Nomadenvölker zu fotografieren: „Mein Interesse war es, herauszufinden, wer diese Völker Sibiriens waren. Wir wussten nicht viel über sie und ich wollte ihre spezifischen Kulturen und ihr Leben zeigen.“

„Mein Interesse war es, herauszufinden, wer diese Völker Sibiriens sind. Wir wussten nicht viel über sie und ich wollte ihre spezifischen Kulturen und ihr Leben zeigen.“

Die Nomadenvölker Sibiriens behaupten sich in einer der menschenfeindlichsten Gegenden der Welt. Das riesige Gebiet zwischen der Tundra im Norden, der Taiga in der Mitte und Steppen im Süden bietet vielfältige Landschaften, doch im Mittelpunkt der Serie stehen die Menschen der indigenen Völker Sibiriens, die über das riesige Territorium verstreut leben. Rund 190.000 Menschen zählt man zu den 26 Nomadenvölkern, die sich in Sprache und Kultur unterscheiden: „Von 1996 bis 1998 reiste ich nach Kamtschatka, um die Ewenen und Koriaken und in Tschukotka die Inuit und die Tschuktschen zu treffen“, erinnert sich die Fotografin. „Ich kehrte zum Amur in die Dörfer Nanai und Oultchi zurück, dann zur Insel Olchon im Baikalsee, wo die Burjaten leben, und schließlich auf die Halbinsel Jamal zum Volk der Nenzen.“

„Ich beschloss sofort, bis ans Ende dieses Landes, groß wie ein Kontinent, zu gehen, von dem ich kein Bild gesehen hatte. Ein Grund war auch dieser wunderbare Name Amur – auf Französisch Amour – ich wollte zum Fluss der Liebe.“

Doury lernte eine Vielzahl von Identitäten kennen, die in ihrer traditionellen Lebensweise bedroht waren. Über Jahrhunderte hatten sie ihre Lebensweise an das extreme Klima angepasst, lebten vom Jagen, Fischen und Sammeln, der Zucht von Rentieren und Pferden. Die Regeln der nomadischen Gesellschaften beruhten auf ihren schamanischen Traditionen und der Ehrfurcht vor der Natur als Quelle allen Lebens. Dourys dichte Bildserie, die sie mit ihrer Leica M6 aufnahm, präsentiert das alltägliche Leben der Menschen, das sich zwischen einem allgegenwärtigen, aber verschwindenden Erbe und einer sich rasant wandelnden Welt befand. Denn auch die von ihr porträtierten Nomadenvölker standen vor schwerwiegenden Problemen der neuen Zeit: Entwurzelung, Verlust traditioneller Werte und Fähigkeiten, Armut und Kriminalität bedrohten den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Zusammenbruch der Sowjetunion war auch hier zu spüren, denn nun gab es die Chance einer Neubesinnung auf die eigene kulturelle Identität.

„Von 1996 bis 1998 reiste ich nach Kamtschatka, um die Ewenen und Koriaken und in Tschukotka die Inuit und die Tschuktschen zu treffen“, erinnert sich die Fotografin. „Ich kehrte zum Amur in die Dörfer Nanai und Oultchi zurück, dann zur Insel Olchon im Baikalsee, wo die Burjaten leben, und schließlich auf die Halbinsel Jamal zum Volk der Nenzen.“

Bewusst entschied sich die Fotografin gegen eine klassische Reportage, sondern präsentierte eine Art intimes Reisetagebuch. Vor allem die zeitintensive und empathische Annäherung der Fotografin öffnete dem Betrachter eine sonst verschlossene Welt. Doury nutzte darüber hinaus die Möglichkeit, grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Mensch und Natur sowie zum Leben im Einklang mit Natur und Tradition aufzuwerfen. Die Auszeichnung, die der Fotografin am 9. Juli 1999 im antiken Theater von Arles während des Festivals Les Rencontres Internationales de la Photographie verliehen wurde, ist für die Fotografin bis heute bedeutend, denn es war ihr erstes großes persönliches Projekt und zum ersten Mal erzielte sie seinerzeit mit ihrer Serie einen internationalen Erfolg. Über 20 Jahre später sollte sie nochmals nach Sibirien zurückkehren, „um zu sehen, was mit den Menschen geschah, die ich damals entlang des Amurs traf“. Ihre aktuellen Arbeiten hat sie kürzlich unter dem Titel „Amour“ in einem neuen Buch veröffentlicht, das nun auch Familien zeigt, die vor einem Jahrhundert aus dem Westen Russlands und der Ukraine nach Sibirien ausgewandert waren.

(Text verfasst 2020)

Claudine Doury

Claudine Doury wurde 1959 in Blois, nahe Orleáns geboren. Nach dem Journalistik-Studium arbeitete sie zunächst als Bildredakteurin bevor sie sich ganz ihrer Fotografie widmete. Für ihr Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, nicht nur mit dem Leica Oskar Barnack Award, sondern u. a. auch mit einem World Press Photo Award (2000) und dem Prix Niépce (2004). Seit 1991 ist sie Mitglied der Agentur VU’. Ihrer ersten Publikation „Peuples de Sibérie“ (1999) folgten zahlreiche weitere Bildbände. Sie lebt und arbeitet in Paris.

Zur Website

Mit ehrenvollen Erwähnungen wurden 1999 der italienische Fotograf Francesco Giousti für seine Serie mit Aufnahmen aus der psychiatrischen Klinik in Neapel und die französische Fotografin Florence Levillain für ihre Farbreportage des Pariser Großmarkts Rungis ausgezeichnet.