010203040506070809010011012013014015
Santi Palacios – On the Edge

Santi Palacios – On the Edge

Seit acht Jahren verfolgt der spanische Fotograf die dramatische Fluchtbewegung auf den Migrationsrouten, die Afrika und den Nahen Osten über das Mittelmeer mit Europa verbinden. Seine Bilder erzählen in gewaltigen Szenen und Farben vom Ausmaß, Leid und Schmerz einer Misere, die in politischer Verantwortungslosigkeit fußt.

Das Wasser ist ihr größter Feind. Wenn es dunkel wird, können sie die Gefahr nicht erkennen, die es birgt. Die Gischt, die Wellen, die Strömung: Das Meer kann tückisch sein. Sie können nur hoffen, dass die Nacht auf dem Wasser gut ausgeht, dass es sie an einen sicheren Ort bringen wird. Mehr als 100 000 Flüchtlinge nehmen jährlich das Wagnis auf sich, begeben sich auf die gefährlichen Routen über das Mittelmeer, das zum tödlichen Ungeheuer für diejenigen werden kann, die es nicht schaffen. Auf dem Weg in ein neues Leben, auf der Flucht vor Krieg, Gewalt, Verfolgung, Hunger, haben Tausende Menschen das Ufer nie erreicht.

„Ich habe mich schon immer für Migrationen, Konflikte und Humanökologie interessiert und versuche, meine Arbeit darauf zu konzentrieren. Es waren diese Themen und die Geschichten dahinter, die mich von Anfang an zum Journalismus und zur Fotografie geführt haben.“

„On the Edge“ heißt das für die LOBA-Shortlist nominierte Projekt von Santi Palacios. Es dokumentiert die größten Fluchtbewegungen, die es je gab und die im Jahr 2020 mit mehr als 80 Millionen Geflüchteten ihren Höhepunkt erreichten. Seit acht Jahren bereist der Fotograf die Orte der wichtigsten Migrationsrouten, die Afrika und den Nahen Osten über das Mittelmeer mit Europa verbinden: die westliche Route (von Marokko nach Spanien), die zentrale Route (von Libyen nach Italien) und die östliche Route (von der Türkei nach Griechenland). Auf seiner Reise hält Palacios die Momente fest, in denen die Menschen ihre Flucht vorbereiten, sie durchführen oder gar bei ihrem Versuch sterben. Er sagt: „Einige meiner Bilder zeigen Szenen, in denen Menschen Grenzen überqueren oder auf See gerettet werden. Das sind chaotische Situationen, in denen vor der Aufnahme wenig oder gar keine Möglichkeit für einen Austausch existiert. Es gibt aber auch Szenen aus dem täglichen Leben der Geflüchteten in Lagern oder Notunterkünften, die eine gewisse Zeit und den Aufbau von Beziehungen benötigen.“

Seine Fotografien sind furchtbare Zeugnisse der Wirklichkeit und intime Momente der Hoffnungslosigkeit. Sie stellen die Gestrandeten nach ihrem Ankommen am Ufer dar, durchnässt, ängstlich, verstört. In ihren Gesichtern liegt noch der Kampf der vergangenen Jahre und der letzten Stunden, die Qual des Fortgehens und das erleichternde Verschwinden der Anspannung darüber, ihr Ziel erreicht zu haben. Obwohl seine Aufnahmen von der Reise über das Meer berichten, erzählen sie gleichsam die ganze Geschichte einer Flucht: Wenn etwa ein Berg orangefarbener Rettungswesten oder ein gekentertes Schiff ein Bild ausmachen, steht dieses symbolisch für die Gefahr, das Leid, die alle Flüchtlinge miteinander verbinden, egal auf welchen Wegen sie sich befinden.

„Ich würde nicht sagen, dass meine Bilder wichtig sind. Aber ich würde sagen, dass die Arbeit von Tausenden von Fachleuten zu einem besseren Wissen und Verständnis der Welt im Allgemeinen und der Grenzen im Besonderen führt. Und das ist wichtig.“

Acht Jahre lang Schmerz. Acht Jahre lang Trauer. Acht Jahre lang Zeuge von Fluchtgeschehnissen. Wie hält ein Fotograf das aus? „Ich kann viel besser damit umgehen, wenn ich das Gefühl habe, dass die Arbeit, die ich mache, es wert ist“, sagt Santi Palacios. „Das ist in der Regel der Fall, wenn die Geschichte weithin veröffentlicht oder ausgestellt wird, und ich die Reaktion des Publikums ablesen kann. Es ist sogar noch einfacher, damit umzugehen, wenn ich erfahre, dass als Reaktion auf ein veröffentlichtes Werk jemand dazu veranlasst wird, positiv auf die Geschichte einzuwirken.“ Und so möchte der Fotograf seine Bilder nicht einfach nur zeigen, um die Betrachter zu informieren, sondern auch, um ihre Empathie zu wecken.

Santi Palacios

Santi Palacios wurde 1985 in Madrid geboren und lebt derzeit in Barcelona. Der studierte Soziologe und gelernte Journalist arbeitet vor allem zu den Themen Migration, Grenzen, Konflikte und Umwelt. Er schreibt für „The Associated Press“ und für die NGO Open Arms, seit 2016 ist er als Professor für Fotojournalismus am EFTI in Madrid und an der Blanquerna-Universität in Barcelona tätig. Für seine Berichterstattung über die Migrationsroute im östlichen Mittelmeer wurde er von „The Associated Press“ für den Pulitzer-Preis in der Kategorie Breaking News Photography 2016 nominiert.

Zur Website