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Victoria Razo – Haitian Migration Crisis

Victoria Razo – Haitian Migration Crisis

Rose Desmornes und ihr Mann Jean Kely Dorjean sind zwei von mehr als 10 000 Haitianern, die im vergangenen Jahr versucht haben, aus Mexiko die Mauer in die Vereinigten Staaten zu überwinden. Die Bildjournalistin Victoria Razo begegnete ihnen während eines fotografischen Projekts, das sie für „National Geographic“ realisierte. Über mehrere Monate hinweg begleitete sie die Familie bei ihrem Start in ein neues Leben.

Erdbeben und Tropenstürme, Proteste und Gewalt, schwache Wirtschaft und Korruption: Der Karibikstaat Haiti ist seit vielen Jahren mit zahlreichen Krisen konfrontiert. Viele Haitianer machen sich auf den Weg, ihre Heimat zu verlassen, suchen ihr Glück und ihre Zukunft außerhalb des Landes. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind mehr als drei Millionen emigriert. Ob nach Mexiko oder in die USA – nicht jede Flucht, nicht jeder Start gelingt, für viele bleibt die Hoffnung oft größer als deren Erfüllung. Allein im September vergangenen Jahres drängten sich mehr als 10 000 Haitianer an der Grenze bei Del Rio, Texas, um in die Vereinigten Staaten zu gelangen. Für die mexikanische Fotojournalistin Victoria Razo war dies der Anlass für ein Projekt: „Ich bin nach Tijuana gereist, weil ich die haitianische Gemeinschaft dokumentieren wollte, die sich bereits in Mexiko etabliert hat“, erzählt sie. „Dabei traf ich auf Rose, die mir ihren Mann und ihre Tochter vorstellte. Besonders die Geschichte ihrer Familie war für mich interessant, weil sie viel erlebt hatte und ein Baby erwartete.“

„Ich wollte die harte und reale Seite des Lebens von Migranten zeigen, wie zum Beispiel die Konfrontation mit der Grenzpatrouille, aber auch die warme und menschliche Seite einer Familie, die gezwungen ist, umzuziehen und sich von ihren Freunden und Verwandten zu entfernen, Menschen, die alles opfern und Tausende von Kilometern auf der Suche nach einem anständigen Leben für ihre Kinder zurücklegen, weil es in ihrem Herkunftsland schwierig zu finden ist.“

Rose Desmornes, Jean Kely Dorjean und ihre zwei Kinder stehen im Mittelpunkt der Serie „Haitian Migration Crisis“. Ursprünglich kommt die Familie aus Port-au-Prince, längst aber haben Rose und ihr Mann versucht, sich in Mexiko ein neues Leben zu schaffen, das ihnen Lohn und Brot verspricht. Kurz vor der Geburt ihres zweiten Kindes, des Sohns Broyenst, entschließen sie sich zur Flucht in die USA. Razo begleitet die Familie von Mexiko bis nach Florida und New Jersey, und erzählt anhand ihrer eine Geschichte, die stellvertretend für so viele Menschen steht: Eine Geschichte von Abschied und Gefahr, von Verlust und Versprechen.

Jean Kely spielt mit seinen Neffen, Rose sitzt zusammen mit anderen Frauen in der Küche oder füttert ihren Sohn – die Fotografin hält das Leben der Familie fest, ist Beobachterin ihres Alltags und Begleiterin ihres Neuanfangs. „Bei der Dokumentation war ich auf der Suche nach den intimsten Momenten, wie sie jede Familie hat“, sagt sie. „Und um diese festzuhalten, habe ich mir zunächst die Zeit genommen, etwas über ihr Leben zu erfahren und ihre Migrationssituation zu verstehen. Es war wichtig, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, damit sie sich mit der Kamera in ihrem Haus für mehrere Tage so wohl wie möglich fühlen.“

„Ich persönlich denke, dass die Fotografie ein sehr mächtiges Kommunikationsmittel ist, und daher auch ein Mittel der Aufklärung. Im Falle dieses Projekts hat das Foto, das die Misshandlung von Migranten durch berittene Grenzschutzbeamte zeigt, ein Erwachen der Empathie in der Gesellschaft bewirkt.“

Neben den persönlichen Einblicken in das Leben der Familie zeigt Victoria Razo in ihrer Serie immer wieder auch die dramatische Lage an der Grenze selbst: Massenpanik bei Flussüberquerungen, Konfrontationen mit Beamten, die Situation in den Auffanglagern. Bei aller Ernsthaftigkeit des Themas sind ihre Aufnahmen aber immer von einer ästhetischen, visuell harmonischen Darstellung und satten Farbigkeit geprägt, tüncht sie ihre Motive in das Licht von spektakulären Sonnenauf- und -untergängen. Für die Fotografin sei diese Art ein Teil der Sprache, die sie mit ihren Bildern ausdrücken möchte, sagt sie. In Zukunft will sie noch viele Jahre lang an Menschenrechtsthemen arbeiten – und Geschichten wiedergeben, die in verschiedenen Teilen der Welt passieren.

Victoria Razo

Victoria Razo wurde 1994 geboren und lebt als freiberufliche Fotografin zwischen Mexiko-Stadt und Veracruz in Mexiko. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Menschenrechts-, Gender-, Migrations- und Umweltthemen. Sie arbeitet unter anderem für „National Geographic“, Agence France-Presse und die Agentur Cuartoscuro. Im Jahr 2021 wurde eines ihrer Bilder von „National Geographic“ zum Foto des Jahres gewählt.

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