Frederik Rüegger: „I Am a Stranger in This Country“
Seit Jahrhunderten leben die irischen und englischen Traveller auf den britischen Inseln als fahrendes Volk. Aufgrund ihrer Lebensweise werden sie beständig ausgegrenzt und diskriminiert. Rüeggers eindrucksvolle Aufnahmen dieser traditionellen Gemeinschaft geben Einblicke in ein Leben, das entbehrungsreich, voller Angst und Sorgen, aber auch von Verbundenheit und Zusammenhalt geprägt ist.
Als Tyson Fury im Jahr 2014 Boxweltmeister wurde, war das weit mehr als ein Titel. „The Gypsy King“ hatte das geschafft, wovon viele in seiner Community träumten: Er war kein Außenseiter mehr. Einen Moment lang wurde durch Furys Weltruhm eine diskriminierte Minderheit ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, schließlich war der Schwergewichtsweltmeister in einer Familie irischer Traveller aufgewachsen. Der Boxsport und auch das „Bare Knuckle Fighting“, das Kämpfen ohne Boxhandschuhe, haben eine lange Tradition innerhalb dieser Community, die als fahrendes Volk arm und ausgegrenzt am Rand der Gesellschaft lebt. Mit etwa 31 000 Angehörigen sind sie die größte, seit 2017 offiziell anerkannte ethnische Minderheit in Irland; in Großbritannien leben rund 15 000. Die Liebe zu und der Handel mit Pferden ist eine wichtige Säule ihrer Kultur. Früher zogen sie mit Planwagen, heute mit Wohnwagen umher. Sie lassen sich auf Park- und Campingplätzen nieder oder siedeln in Gebieten, die ihnen von den Behörden zugewiesen werden.
„Als Dokumentarfotograf kreist meine Arbeit um die tiefgründige und komplexe Vielfalt menschlicher Kultur. Jedes meiner Fotos ist Teil einer größeren Erzählung, die das Wesen von Gemeinschaften, Traditionen und das subtile Zusammenspiel von Geschichte und Moderne einfängt und vermittelt. Meine Kamera dient dabei als Werkzeug und Zeugin.“
Durch Tyson Fury ist auch Frederik Rüegger zum ersten Mal auf die Traveller aufmerksam geworden. Für den Fotografen, der selbst seit vielen Jahren aktiv Kampfsport betreibt, hat der Boxsport eine große Bedeutung, und so begann er seine Recherche. Das Ergebnis: Zwei Jahre lang reiste der heute 32-Jährige immer wieder nach Großbritannien und Irland und fuhr zu den wenigen Orten und Messen, den letzten traditionellen Rückzugsorten, an denen die Traveller-Gemeinschaft ihre Traditionen und Bräuche noch lebendig halten kann. Er besuchte den Pferdemarkt von Appleby im nordenglischen Cumbria, lernte dort Traveller-Familien kennen, gewann ihr Vertrauen und fotografierte sie.
„Fotografie ist weder das Ende noch die Lösung, sondern lediglich eine Einladung, genauer hinzusehen, aufmerksamer zuzuhören und sich intensiver mit der Welt um uns herum auseinanderzusetzen.“
Vorurteile und Ausgrenzung stehen für diese Menschen an der Tagesordnung. Sie würden stehlen, betrügen und auf Kosten andere leben, heißt es oft, entsprechend gering ist ihre Akzeptanz bei der Mehrheitsgesellschaft. „Traveller werden oft stigmatisiert, als aggressiv, verschlossen oder unfreundlich dargestellt. Nichts davon habe ich erfahren, ganz im Gegenteil. Ich wurde aufgenommen und akzeptiert“, weiß Rüegger zu berichten und fügt hinzu: „Ich glaube fest daran, dass, wenn man Menschen mit Respekt, Achtung, Ehrlichkeit und guten Absichten begegnet, man diese auch zurückbekommt. Es war nicht schwerer oder leichter als Begegnungen mit jedem anderen Fremden, dem ich bisher begegnet bin. Es braucht einfach viel Zeit, um Vertrauen aufzubauen.“ Seine eindrucksvollen und zutiefst respektvollen Fotografien zeugen von seiner achtsamen Herangehensweise. Rüeggers Dokumentarfotografien sind direkt, dynamisch und unaufgeregt nah. Sie zeigen, ohne zu interpretieren, sie stellen dar, ohne zu belehren. Sie legen Zeugnis ab von einem Leben, das meist im Schatten der Gesellschaft stattfindet, das eigenwillig ist, aber auch frei, das entbehrungsreich ist und auch voller Sorgen. Es ist ein Leben voller Anspannung und Armut, voll schwelender Angst vor Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Diskriminierung. Und es ist auch ein Leben inmitten einer eingeschworenen Gemeinschaft, geprägt von Verbundenheit und Zusammenhalt.
Vorgeschlagen wurde Frederik Rüeggers Serie von Mustafah Abdulaziz, der in diesem Jahr zur Gruppe der internationalen LOBA-Nominatoren gehörte.

Frederik Rüegger
Frederik Rüegger wurde 1993 in Worms geboren. 2012 zog er nach New York, wo er mehr als fünf Jahre als Model lebte und arbeitete. Während dieser Zeit entwickelte Rüegger seinen dokumentarischen Fotografiestil. Er schloss zunächst ein Studium der Sportwissenschaften in Köln mit einem Bachelor ab, bevor er von 2019 bis 2025 an der Ostkreuzschule in Berlin Fotografie studierte. I Am a Stranger in This Country ist seine Abschlussarbeit und wurde als Buch im Kehrer Verlag veröffentlicht.
Porträt: © Damian Pfattner