Interview Wiktoria Wojciechowski

Für ihre Serie Short Flashes erhält die polnische Fotografin Wiktoria Wojciechowska in diesem Jahr den Leica Oskar Barnack Award Newcomer. Die Aufnahmen zeigen flüchtige Momente aus dem chinesischen Alltag. Mehrere Monate lang porträtierte Wojciechowska Pendler auf zwei Rädern, bevorzugt bei Regen, unterwegs in den Riesenstädten Peking und Hangzhou. Warum sie im Augenblick eines Wimpernschlags und in dieser ungestellten Aufnahmesituation die Wahrheit entdeckt und wie sie selbst oft knöcheltief im Wasser stand, erzählt die junge Fotografin im Gespräch mit LFI.

LFI: Vervollständigen Sie doch bitte diesen Satz: „Ein Chinese ohne Fahrrad ist …

Wiktoria Wojciechowska: Dieser Satz hat heute keine Bedeutung mehr. Chinesen auf dem Fahrrad sind vom Aussterben bedroht. Was ist eine Chinese ohne Auto? – das ist eher die Frage, die sich im Augenblick stellt und die sich auch in Zukunft offenbar stellen wird.

LFI: Also ist das weit verbreitete Bild von den Chinesen als der‚ fahrradfahrenden Nation‘ nicht mehr zeitgemäß?

Wojciechowska: Als ich Short Flashes fotografierte, fragte mich mein Chinesischlehrer, warum ich diese armen Menschen aufnehme. Nur der ärmere Teil der chinesischen Bevölkerung fährt Fahrrad. Erst da wurde mir klar, dass ich ein Projekt über eine bestimmte soziale Schicht machte. Heutzutage ist es eher beschämend, wenn man auf ein Fahrrad oder einen Roller angewiesen ist. Das Auto ist auch dort das Statussymbol schlechthin.

LFI: Wie sind Sie überhaupt auf die Idee zu Short Flashes gekommen?

Wojciechowska: 2013 und 2014 war ich während einer Künstlerresidenz in Hangzhou und in Peking. Auf die Idee für
das Projekt kam ich während eines meiner einsamen Spaziergänge durch Hangzhou. Ich war allein nach China gekommen, ganz ohne Sprachkenntnisse und während der Taifunsaison. Die Straßen waren von dem schier endlosen Regen überflutet. Knöcheltief stakste ich durch das Wasser, beobachtete meine neue Umgebung, ohne dass ich mich irgendjemandem mitteilen konnte. Mit den namenlosen Fahrrad- und Rollerfahrern, die an mir vorbeirauschten, fühlte ich mich in dieser Anonymität verbunden. Tatsächlich konnte ich sie aber nicht anhalten, also versuchte ich, sie auf meine Art und Weise an- und festzuhalten: mit meiner Kamera und einem Blitz. So erschuf ich jeweils das Phantom eines Augenblicks.

LFI: Das klingt, als ob daher auch der Titel Ihrer Serie Short Flashes rührt?

Wojciechowska: Nein, der Titel bezieht sich auf das Buch Traktat o łuskaniu fasoli [auf Deutsch etwa: Traktat über das Bohnenschälen, Anm. d. Red.] von Wiesław
Myśliwski, einem meiner polnischen Lieblingsautoren. Dort sagt er etwas sehr Bedeutungsvolles über die Fotografie aus und über die Artefakte, die von ihr übrig
bleiben. Er schreibt, dass man die Gesichter, ‚die in kurzen Blitzlichtern verinnerlicht werden‘, nie vergisst. Gemeint ist die Kraft der Bilder, die wir in unserer Erinnerung tragen. Allein die Fotografie vermag es, durch das Betätigen des Auslösers diesen Wimpernschlag, diesen blitzlichtartigen Augenblick festzuhalten. In meiner Serie ist das fotografische Blitzlicht nur ein technisches Mittel, um die Menschen aus der Masse herauszulösen und ihr Abbild zu bewahren.

LFI: Wie haben die Menschen reagiert, als sie merkten, dass sie fotografiert werden?

Wojciechowska: Die Wenigsten haben es bemerkt. Die Meisten haben sich viel zu sehr auf die Straße und das schlechte Wetter konzentriert. Manche haben gelächelt, ein paar kamen zu mir und fragten nach dem Grund der Aufnahme. Da ich recht gut Chinesisch gelernt hatte, konnte ich ihnen nach ein paar Wochen mein Vorhaben sogar erklären.

LFI: Haben Sie jemals einen Radfahrer angehalten, weil Sie ein ‚richtiges Porträt‘ aufnehmen wollten?

Wojciechowska: Short Flashes sind richtige Porträts. Außerdem sind diese Aufnahmen echter als gestellte Fotografien. Für mich sind echte Porträts gleichbedeutend mit der Wahheit. Die Wahrheit befindet sich zwischen der Bilderzeugung – in natürlichen Bewegungen und Gesten. Die Wahrheit zeigt sich, wenn der Körper durch äußere Umstände getrieben ist und wenn die Gedanken einen bestimmten Gesichtsausdruck auslöschen – dann, wenn scheinbare Abwesenheit entsteht.

LFI: Erst dann ist für Sie die Fotografie eines Menschen echt und authentisch?

Wojciechowska: Heute werden Millionen Selfies gemacht. Jeder hat ein bestimmtes Fotogesicht und weiß, wann er gut aussieht und wann nicht. Wir kontrollieren uns mehr und mehr – und wir schauspielern. Aber das Echte, das Authentische befindet sich immer ‚zwischen‘ den einstudierten Verhaltensmustern.

LFI: Hat es eigentlich die ganze Zeit über geregnet? Oder haben Sie absichtlich auf regnerische Momente gewartet?

Wojciechowska: In Hangzhou hat es fast den ganzen Herbst und Winter lang geregnet. In der Stadt war es kalt und fröstelig. Es gab keine Heizung und meine Kleidung war ständig nass. Aber im Regen konnte man besonders gut den unverstellten Gesichtsausdruck der Menschen einfangen und auch die bunt glänzenden Regenjacken.


Interview: Katrin Ullmann

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Wiktoria Wojciechowska

1991 in Lublin, Polen, geboren. Studienabschluss an der Academy of Fine Arts in Warschau. Künstlerresidenzen in China und Island. Zahlreiche Ausstellungen und Auszeichnungen sowie Veröffentlichungen in internationalen Magazinen.

www.wiktoriawojciechowska.com