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Laetitia Vançon: Tributes to Odesa

Laetitia Vançon: Tributes to Odesa

Wie sieht das Dasein im Zustand eines Krieges aus? Die französische Fotografin reiste im Juni 2022 nach Odesa und hielt dort den Alltag der ukrainischen Bevölkerung fest. Ihre Serie ist ein Zeugnis von Menschlichkeit, Hoffnung und Mut inmitten verheerender Zeiten – und erzählt davon, wie das Leben trotz widriger Umstände immer weitergeht.

In einer Zeit, in der die Stille am größten, der Schlaf am tiefsten und die Sorgen am geringsten sind, schlagen die ersten Raketen ein. Am 24. Februar 2022, zwischen vier und fünf Uhr morgens, startet Russland seinen brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine, der die dortige Bevölkerung und selbst die ganze Welt in Schock, Trauer und Entsetzen stürzt. Auch die strategisch wichtige Hafenstadt Odesa wird über Nacht zum Dreh- und Angelpunkt dieses Krieges; zum einen, weil sie das Tor zum Schwarzen Meer bildet, zum anderen, weil dort besonders ein Konflikt zwischen der russischen und der ukrainischen Identität, zwischen imperialer Vergangenheit und demokratischer Zukunft, herrscht. „Es ist die Stadt mit ihrer wilden Unabhängigkeit und ihrer hartnäckigen Offenheit, die alles symbolisiert, was Putin in der Ukraine vernichten will“, sagt Vançon.

Vier Monate nach Kriegsbeginn reist die französische Fotografin in die Millionenmetropole und hält dort das öffentliche Leben fest. Sie kommt im Juni an, der Frühling beginnt, und irgendwie scheint nach den schrecklichen Wintertagen ein Hauch des Alltags zurückzukehren: Kinder spielen, Menschen sitzen in Straßencafés, Frauen besuchen die orthodoxe Morgenmesse. Doch hinter dieser behaglich wirkenden Szenerie verbirgt sich weiterhin der furchtbare Krieg, der immer näher rückt und die Stadt bedroht. Sandsäcke, Panzersperren, Verwüstung – Vançons Aufnahmen erzählen von Routine, aber vor dem Hintergrund eines Krieges, der sich in den Alltag der Menschen eingeschlichen hat wie ein Parasit und nun sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdringt.

„Bei der Suche nach Motiven für meine Fotografien in Odesa oder an anderen Orten versuche ich, Szenen einzufangen, die ein Gespür für den Ort hervorrufen und die einzigartige Atmosphäre und das Gefühl der Stadt vermitteln.“

Ihre Bilder sind Momentaufnahmen, Dokumente des Lebens und Überlebens, Zeichen der Solidarität und des Zusammenhalts. Vor einem Zentrum der humanitären Hilfe in Mikolajiw, etwa 100 Kilometer von Odesa entfernt, stehen die Menschen Schlange, um Lebensmittel und Wasser zu bekommen. Im Hintergrund prangen an den Häuserwänden noch die kyrillischen Buchstaben in russischer Sprache, finden sich dort Wörter wie „Karaoke“ und „Veranda“ wie Relikte aus vergangenen Zeiten. „Mein Ziel war es, visuelle Verbindungen wie Brücken zwischen der Gegenwart und historischen Wahrzeichen herzustellen, die als Pfeiler des Erbes und des Symbols dienen“, sagt die französische Fotografin. „Durch die Verflechtung dieser Elemente wollte ich eine visuelle Erzählung schaffen, die nicht nur den aktuellen Stand der Dinge wiedergibt, sondern auch die bleibende historische Bedeutung der Stadt würdigt.“

„Indem ich diese Momente fotografiert habe, wollte ich zeigen, was es braucht, um selbst in den dunkelsten Zeiten weiterzumachen, den Mut und die Widerstandsfähigkeit einer Nation, die sich um jeden Preis für das Leben entscheidet und trotz aller Schwierigkeiten die Hoffnung nicht aufgibt.“

Inspiriert von Künstlern wie Johannes Vermeer oder Édouard Manet fängt Laetitia Vançon nahezu malerisch intime Momente und die Schönheit einfacher, alltäglicher Gesten ein, in Pastellfarben und sanften Tönen vermittelt sie trotz drohender Gefahr ein Gefühl von Ruhe und Harmonie. Die Botschaft, die sie mit ihren Bildern senden will, heißt: In der Stärke der Gemeinschaft geht das Leben in Odesa irgendwie weiter. Mehr ukrainisch, weniger russisch, erspürt die Stadt das umkämpfte Land, zu dem sie gehört.

Vorgeschlagen wurde Vançons Serie von Gaia Tripoli, die zur diesjährigen Gruppe der 60 internationalen LOBA-Nominatoren gehörte. 

Laetitia Vançon

geboren 1979, ist eine französische Fotografin, die in München lebt. In den letzten sieben Jahren hat sie in der ganzen Welt gearbeitet, 2022 wurde sie von der New York Times beauftragt, die ukrainische Flüchtlingskrise in Ungarn, Moldawien und Georgien zu dokumentieren. Anschließend hielt sie die wachsenden politischen Spannungen an den Grenzen von Transnistrien und Südossetien fest. Ihre fotografischen Geschichten führen die Betrachter zu einem besseren Verständnis der Welt.

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Portrait: © Manu Theobald