010203040506070809010011012
Sergey Melnitchenko: „Behind the Scenes”

Sergey Melnitchenko – Behind the Scenes, Newcomer 2017

Näher als der Ukrainer Sergey Melnitchenko kann man seinen Protagonisten kaum kommen: In dem chinesischen Tanzclub, in dem seine Serie über Freud und Leid im Backstage-Bereich entstand, arbeitete er selbst auch als Tänzer. Hautnah richtete sich sein Blick hinter die Kulissen. Mit seiner Serie setzte er sich 2017 als LOBA Newcomer durch.

Beobachtungen abseits der Scheinwerfer. Glitzernde Kleider, aufreizende Korsagen und blaue Flecken sieht man bei Aufführungen und backstage. Hinter der Bühne wird entspannt gelacht, enthemmt geweint, genervt geraucht und leidenschaftlich gestritten. Es gibt wenig Sauerstoff, viele sind außer Atem. Szenen wie diese kennt Melnitchenko mit und ohne Kamera in der Hand: Noch länger, als er Fotograf ist, ist er als Tänzer aktiv. Seine Beobachtungen und Erfahrungen hielt er in „Behind the Scenes“ fest.

„Hier ist alles echt – es handelt sich nicht um Szenen, sondern um das echte Leben, unser Leben.“

Hautnah ist er dran an Kollegen, Transvestiten, Tänzern und Tänzerinnen, die mit ihm den Alltag teilen. „Im Frühjahr 2016 traten wir in einem chinesischen Club auf, der eher wie eine riesige Bar mit Bühne wirkte, weil keiner der Besucher tanzte. Dort entstand die Idee zu ‚Behind the Scenes‘.“ Melnitchenko war schon in einigen Clubs tätig, aber in diesem, im chinesischen Dongguan mit mehr als elf Millionen Einwohnern, hat er die Stimmung als ganz besonders wahrgenommen. Dongguan liegt östlich des Perlflusses, gut 50 Kilometer von Chinas drittgrößter Stadt Guangzhou entfernt. Die Stadt hat rund 2000 Schuhfabriken und lebt zu einem wesentlichen Teil von der nationalen Computerindustrie. Wegen ihrer zahlreichen Bordelle und einem geschätzten Jahresumsatz von bis zu 20 Milliarden Euro gilt sie als Sexhauptstadt des Landes.

„Ich zeige die unsichtbare Seite des Clubs; die Atmosphäre, von der ich ein Teil wurde. Hinter den Kulissen gibt es mehr Burleske als auf der Bühne, die Konzentration der sexuellen Energien ist stärker als der Sauerstoff.“

Melnitchenkos Fotos erzählen vom Zusammenhalt des Ensembles, von Sorgen und Freuden, vom Spaß bei der Arbeit. Mit seiner Mischung aus Dokumentarfotografie und Reportage findet der Fotograf zu einer cineastischen Ausdrucksweise: Mitten drin richtet sich sein Blick auf die Protagonisten. Nur das vorhandene Licht lässt die Szenerie zum Set werden. Feinfühlig protokolliert er die Emotionen und Bewegungen seiner Kollegen. Die atmosphärische Dichte wird zur Leinwand, auf der der Fotograf seine humanistischen Bilder entstehen lässt. Der Betrachter taucht ein in die meist verborgene Welt jenseits der Tanzfläche.

Etwa 2009 hat Melnitchenko angefangen zu fotografieren: „Zunächst habe ich mich mit Akt-Fotografie und inszenierten Motiven beschäftigt. In China habe ich dann begonnen, mit meinem Mobiltelefon auf der Straße zu fotografieren und meinen Alltag mit einer Sofortbildkamera zu dokumentieren. ‚Behind the Scenes‘ war etwas wirklich Neues für mich.“

(Text aktualisiert 2020)

Sergey Melnitchenko

Sergey Melnitchenko wurde 1991 in Mykolajiw, Ukraine, geboren. Er ist Mitglied der Ukrainian Photographic Alternative, eines Kollektivs, das zeitgenössische Fotografie aus der Ukraine fördert. 2013 veröffentlichte er seine Serie „Loneliness Online“ im Eigenverlag. Seine Arbeiten wurden in diversen internationalen Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. Er lebt und arbeitet seit einigen Jahren in China.

Zur Website