Interview mit der amerikanischen Fotografin Maggie Steber

Der Leica Oskar Barnack Award (LOBA) geht 2021 in seine 41. Runde. Zum zweiten Mal wählen Nominatoren die Wettbewerbsteilnehmer aus. An dieser Gruppe von rund 100 Fotografie-Experten aus über 40 Ländern haben auch diesmal wieder Fotografinnen und Fotografen einen großen Anteil. Viele gehörten in den letzten 40 Jahren selbst zu den LOBA-Gewinnern oder sind versierte Berater, die ihre Erfahrung und Kennerschaft der Fotografie-Szene einbringen. In einer neuen Folge der LOBA-Insights-Interviews sprechen wir mit der vielfach ausgezeichneten Dokumentarfotografin Maggie Steber aus den USA zu ihrer Einschätzung und zu aktuellen Entwicklungen in der Fotografie.

Bei Ihrem Foto-Equipment spielt Leica eine bedeutende Rolle. Haben Sie sich jemals selbst für den LOBA beworben haben oder sind für ihn vorgeschlagen worden?

Nein, ich habe mich nie für den LOBA beworben, obwohl ich es oft vorhatte und gerne getan hätte. Natürlich ist es nie zu spät, da Kameras von Leica langjährige Begleiter meiner fotografischen Arbeit sind. Sie sind die einzigen Kleinbildkameras, die ich sowohl bei meinen beruflichen als auch privaten Projekten und Aufträgen verwende.

„Der LOBA blickt auf eine lange Geschichte der Auszeichnung hochwertiger und starker fotografischer Arbeiten zurück.“

Was ist aus Ihrer Sicht das Besondere am LOBA?

Die Gewinnerserien entsprechen meiner Meinung nach dem hohen Qualitätsstandard, den bereits die Kameras von Leica widerspiegeln, selbst wenn die ausgezeichneten Arbeiten zumeist nicht mit einer Leica gemacht wurden. Ich bin immer wieder tief berührt oder überrascht von den visuellen Geschichten, die diese Auszeichnung erhalten. Aber um ehrlich zu sein, finde ich es persönlich sehr bedauerlich, dass der LOBA nun durch einen Nominierungsprozess bestimmt wird. Ich denke, diese Idee verschließt vielen Menschen die Teilnahme, die großartige Arbeit geleistet haben, aber nicht nominiert werden, weil sie vielleicht nicht die „richtigen“ Leute in diesem Geschäft kennen. Aber trotzdem bin ich natürlich dankbar, an dem neuen Prozess selbst als Nominierende teilzunehmen.

Welche Schritte sollten unternommen werden, um eine möglichst große Vielfalt im Bewerberfeld sicherzustellen?

Es gilt Sorge dafür zu tragen, dass eine Vielzahl von Menschen um diesen Wettbewerb weiß und die Informationen mit Menschen auf der ganzen Welt und in verschiedenen Kulturen teilt. Selbst die Einrichtung des Nominierungsverfahrens garantiert nicht immer eine größere Vielfalt, aber zumindest im Moment scheint es so, als ob die Leute nicht nur auf Fotografen aus den USA oder Europa achten. Fotoredakteure sind besonders gut geeignet, um Fotografen zu nominieren oder zu ermutigen und über diese Möglichkeiten zu informieren, da sie in der Regel mehr Arbeiten ansehen als jeder andere.

Können Sie uns einen Einblick geben, wie Sie bei der Auswahl Ihrer Vorschläge für den LOBA vorgegangen sind?

Ich schaue mir das ganze Jahr über Arbeiten von einer Vielzahl von Fotografen aus der ganzen Welt an. Viele schicken mir ihre Arbeiten und bitten mich um Rat, Kommentare oder Hilfe bei der Bearbeitung, und obwohl ich nicht jedem helfen kann, gibt mir das einen echten Einblick in die Arbeit, die rund um den Globus entsteht. Ich selbst bin eine visuelle Geschichtenerzählerin und ich suche nach Themen, die auf neue Art und Weise präsentiert werden können: Geschichten, die auf innovative Art und Weise fotografiert werden und die sich mit der menschlichen Erfahrung auseinandersetzen, Arbeiten, die überraschend und schön sein können, die ermutigend sind. Da ich damit oft beschäftigt bin, mache ich mir Notizen und speichere Namen und Arbeiten für diese Art von Wettbewerbsvorschlägen.

Wie haben Sie die Veränderungen in der Fotoszene im letzten Jahr erlebt, das von Covid-19 geprägt war?

Ich denke, wir haben einige sehr kreative Arbeiten aus der ganzen Welt gesehen, darunter auch sehr persönliche Projekte. Ich habe das Gefühl, dass dieser besondere Moment in der Geschichte auf vielfältige und wichtige Weise festgehalten wird. Meine Hoffnung ist, dass es einen Weg gibt, ein internationales Archiv von Arbeiten zu schaffen, die rund um die Pandemie entstanden sind, um sie in eine kollektive Plattform zu stellen, so dass sie zu einer historischen Sammlung werden. Ich weiß nicht, wer das machen kann oder wo dieses Archiv online untergebracht werden könnte, aber ich glaube, dass es eine Anstrengung von jemandem oder einer Organisation wert wäre.

„Durch die digitalen Möglichkeiten sehe ich eine neue fotografische Demokratie. Ich schätze das, aber ich sehe auch, dass es einen noch größeren Bedarf gibt, die Leute über die Regeln der Fotografie aufzuklären."

Was wird sich Ihrer Meinung nach in der Fotoszene in den nächsten Jahren am meisten verändern?

Die Veränderungen sind bereits jetzt eingetreten und sie fanden auch schon vor der Pandemie statt. Es gibt mehr jüngere Fotografen, mehr Fotografen, die nicht aus den USA oder Europa stammen, und mehr Zugang für jeden als je zuvor, um gesehen, veröffentlicht und ausgestellt zu werden. Während ich darüber überglücklich bin, weil es uns ein echtes Gefühl dafür gibt, wie der Blickwinkel eines jeden ist und wie seine Welt aussieht, sehe ich auch Arbeiten, denen es an Tiefe fehlt und denen es nicht gelingt, über das Offensichtliche hinauszugehen. Allerdings gibt es auch eine Menge Arbeiten, die überraschend und neu sind. Ich sehe auch eine neue fotografische Demokratie, in der dank digitaler Möglichkeiten jeder fotografieren kann, und ich schätze das, aber ich sehe auch, dass es einen noch größeren Bedarf gibt, die Menschen über die Regeln der Fotografie aufzuklären, vor allem im dokumentarischen oder fotojournalistischen Bereich. Eine konzeptionelle Arbeit erlaubt jede Form von Ideen, die auf jede Art und Weise umgesetzt werden können, die der Fotograf für richtig hält, aber wenn man die Geschichten anderer erzählt oder über Themen berichtet, muss man die Wahrheit fotografieren, egal welchen visuellen Ansatz man wählt. Man muss mit den Menschen sprechen – etwas, das vielen Fotografen so schwer zu fallen scheint – man muss zuhören, um die Wahrheit zu erfahren und man muss die Wahrheit aufschreiben und Bildunterschriften oder Texte verfassen, weil man Geschichte aufzeichnet. Und schließlich ist die Fotografie ein Geschäft, das bereits sehr überlaufen ist, also muss man, um es in diesem Geschäft zu schaffen, verstehen, wie es funktioniert, und das ist etwas, das noch immer nicht ausreichend als Information weitergegeben wird.

Aber Sie sind trotz allem auch optimistisch, was die Zukunft angeht?

Ja, es ist eine Zeit, in der sich die Fotografie wirklich verändert, und es ist faszinierend, das zu beobachten. Das Beste an den Veränderungen, die nicht immer gut sind, ist, dass wir jetzt viele Stimmen aus vielen Kulturen hören, und wir sehen, wie viele verschiedene Menschen sich selbst und die Welt sehen, und das finde ich faszinierend.

Herzlichen Dank für das Gespräch. Wir freuen uns auf Ihre Nominierungen.

Maggie Steber

Maggie Steber wurde 1949 in Texas, USA, geboren. Sie ist Guggenheim-Stipendiatin und Pulitzer-Preis-Finalistin für Dokumentarfotografie, die in 70 Ländern gearbeitet hat und Geschichten über das menschliche Dasein fotografiert. Sie arbeitet für die „National Geographic“ und wurde 2013 von diesem Magazin zu einer von elf Women of Vision ernannt. Ihr laufendes persönliches Projekt ist „The Secret Garden of Lily LaPalma“, das durch ein zweijähriges Stipendium der Guggenheim Foundation unterstützt wird. Zu ihren weiteren Auszeichnungen gehören u.a. der Lucie Award for Photojournalism 2019, der Overseas Press Club President’s Award 2019, der Joseph A. Sprague Memorial Award 2020, die Leica Medal of Excellence sowie zahlreiche Prämierungen der World Press Photo Foundation. Sie ist Mitglied der Bildagentur VII und Mitglied von „Facing Change Documenting America“. Sie lebt derzeit in Miami.

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