010203040506070809010011012
Leica Oskar Barnack Award 2003: Andrea Hoyer „Stätten der Erinnerung“

Andrea Hoyer – Stätten der Erinnerung, 2003

Zum ersten Mal in der Geschichte des LOBA ging die Auszeichnung 2003 an eine deutsche Fotografin. Andrea Hoyers Bildreportage, ein 1998 begonnenes Langzeitprojekt, dokumentiert in feinfühlig komponierten Schwarzweißaufnahmen die Sehnsüchte, Perspektiven und Stimmungen der russischen Bevölkerung der postsowjetischen Ära.

„Ich hatte immer schon diesen Drang nach Sprachen und Ländern“, erklärt die Fotografin. Neugier, Abenteuerlust und die Bereitschaft, sich auf andere Völker und Kulturen einzulassen, zeichnen auch diese Serie aus. Bis 2002 reiste Hoyer immer wieder nach Kasachstan, Usbekistan, Russland und in die Ukraine. Immer allein, denn: „Ich muss in einem bestimmten Zustand sein, um das zu finden, was ich suche.“

„Die Gewinnerserie ist ein integraler Bestandteil meiner wichtigsten fotografischen Arbeit.“

Die Aufnahmen, fotografiert auch mit einer Leica M6, zitieren die zerfallene Sowjetunion und spielen ebenso in der Weite der russischen Landschaft wie in Städten und Stränden am Schwarzen Meer. Die Bilder der in New York lebenden Fotografin fokussieren die Situation der Menschen: in ihrer Einsamkeit allein und in Gruppen, in ihrer Orientierungslosigkeit oder in der Geborgenheit im Freundes- und Familienkreis. Hoyer setzt nicht auf plakative bildjournalistische Dramatik, sondern verdichtet mit aufmerksamer Beobachtung Stimmungen und ihre Spiegelungen in der eigenen Seele. Entstanden ist keine klassische Reportage, sondern eine sehr persönliche Sicht auf die von ihr besuchten Länder. Die von ihr porträtierten Personen sind immer Teil einer Gesamtkomposition, oft sind sie angeschnitten; Architektur und Landschaften korrespondieren häufig mit den Posen der Abgebildeten und verschmelzen zu einer komplexen Bildgestaltung. „Es waren immer Kompositionen, die mich interessiert haben“, erläutert sie. Vieles wirkt rätselhaft, kein Bild lässt sich sofort deuten, lädt damit aber zur genaueren Betrachtung ein.

„Da ich immer in relativer Unbekanntheit gearbeitet habe, hat mich der LOBA gewissermaßen auf die Landkarte der Fotografie gebracht. Er öffnete Türen und zeigte Wege auf, von denen ich nicht wusste, dass sie existieren.“

Der Leica Oskar Barnack Award war Hoyers erste internationale Auszeichnung. Der Erfolg bei der Preisverleihung während der Rencontres d’Arles belohnte den Mut und die Ausdauer der Fotografin. Erstmals wurde bei dem Festival auch ein größeres Publikum auf ihr Werk aufmerksam. Seit 2012 arbeitet sie auch skulptural und modelliert die Köpfe imaginärer Personen in Ton. Diese Arbeit verbindet sich mit ihrem Interesse am individuellen und kollektiven Gedächtnis und adaptiert fotografische Prinzipien. „Es behandelt die gleichen Themen, die ich in der Fotografie erforscht habe: Erinnerung, Identität und Verlust“, so Hoyer.

(Text aktualisiert 2020)

Andrea Hoyer

Andrea Hoyer wurde 1967 in Göttingen geboren, wuchs in Deutschland und den USA auf. Sie hat Fotografie in San Francisco und New York studiert. An der Columbia University schloss sie den Studiengang Middle Eastern Studies/Arabic mit Auszeichnung ab. 1995, nach einjährigem Usbekisch-Studium, fotografierte Hoyer zunächst in den zentralasiatischen Nachfolgestaaten der UdSSR, in den folgenden Jahren dann vornehmlich in Russland. Arbeiten aus sechs Jahren in der ehemaligen UdSSR versammelt ihr 2011 erschienener Bildband „ReCollections“. Er war für den Deutschen Fotobuchpreis 2012 nominiert.

Die Jury des Leica Oskar-Barnack Award hat zudem zwei ehrenvolle Erwähnungen vergeben: an den dänischen Reportagefotografen Jan Grarup für seine vielschichtige Arbeit über die vergessenen Flüchtlinge der Welt und an die Britin Vanessa Winship für ihre Arbeit „Albanian Landscape“.