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Tomas van Houtryve: „Lines and Lineage“

Finalist 2019: Tomas van Houtryve

Welche Bedeutung können Fotografien für die kollektive Erinnerung haben? Eine ungewöhnliche Antwort liefert der belgische Fotograf mit seiner Serie „Lines and Lineage“, in der er aktuelle Aufnahmen mithilfe eines Verfahrens aus der Frühzeit der Fotografie in die Vergangenheit projiziert.

Ein blinder Fleck in der Geschichte der USA ist die Tatsache, dass die Grenze zwischen Mexiko und den Vereinigten Staaten nicht immer dort war, wo sie heute verläuft – erst der Krieg von 1846–48 verschob sie um 1100 Kilometer in den Süden. Ein amerikanischer Mythos ist die Vorstellung, dass die europäischen Siedler auf ihrem Weg durch den Westen der USA ein leeres Land besetzten. Allerdings gibt es aus dieser Region keine bildlichen Aufzeichnungen, die den ursprünglichen Zustand – vor Ankunft der Siedler – zeigen, denn das erste fotografische Verfahren, die 1839 in Paris vorgestellte Daguerreotypie, wurde erst einige Jahre später auch in den USA populär.

„Ich denke, dass von allen künstlerischen Medien die Fotografie das beste für die Zwecke der Erinnerung ist.“

Um die unsichtbare Ära zu visualisieren, fotografierte Houtryve Nachkommen der früheren Bewohner des Westens mit einer Plattenkamera des 19. Jahrhunderts und nutzte dabei das sogenannte Nass-Kollodium-Verfahren, das Dunkelkammerarbeit vor Ort voraussetzt, da die Glasplatten unmittelbar nach ihrer Belichtung fixiert werden müssen. In Diptychen, die neben den eindrücklichen Porträts jeweils eine Landschafts- oder Architekturaufnahme aus dem ehemals mexikanischen Gebiet zeigen, vermittelt der Fotograf eine ungewöhnlich sinnliche Entdeckung der verdrängten Geschichte. Houtryve verweist durch sein Verfahren nicht nur auf die Identität und Geschichte der Region, sondern bezieht indirekt auch Stellung zu der heutigen Regierungspolitik der USA, die vor allem von Missachtung, Abgrenzung und Mauerbau bestimmt ist.

Tomas van Houtryve

Der belgische Fotograf wurde 1975 in Kalifornien geboren und studierte Philosophie, Fotojournalismus und Fotografie an der University of Colorado. Als Konzeptkünstler, Fotograf und Autor verbindet er in seinem Werk Fragen nach Identität, Erinnerung und Macht und nutzt dazu eine Vielzahl technischer Verfahren. Seine erste Monographie „Behind the Curtains“ von 2012 widmete sich der Realität von Ländern, in denen die kommunistische Partei regiert. Mit dieser Serie war er bereits 2011 Finalist beim Leica Oskar Barnack Award. Van Houtryve ist Emeritus-Mitglied der Agentur VII und lebt in Frankreich.

Porträt: © Justin McKie