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Gustavo Minas: Liquid Cities

Gustavo Minas: Liquid Cities

Eindrucksvoll erzählen die Aufnahmen des brasilianischen Street-Fotografen von Isolation, Entfremdung und Haltlosigkeit. Integrierte Spiegelungen, kaum verortbare Lichtquellen und irritierende Blickwinkel machen seine Fotografien zu faszinierenden Bildmetaphern für das Leben in „Liquid Cities“.

Irgendwo. Im Strudel der Großstadt. Haltlos verloren. In der Spätmoderne habe der Mensch jeglichen gesellschaftlichen Fixpunkt verloren. Das mache das Leben jeden Tag aufs Neue ungeheuer anstrengend, denn „flüssig geworden ist alles, was uns umgibt“. So lautet die Analyse des polnischen Soziologen Zygmunt Bauman (1925–2017), wie er sie in „Flüchtige Moderne“, 2003 erschienen, zu Papier gebracht hat. Der Originaltitel der Publikation, „Liquid Modernity“, macht Baumans Haltung noch deutlicher: In der „leichten, diffusen und flüssigen Moderne“, so seine Diagnose, stürze das Individuum in den Abgrund der Haltlosigkeit, werde es „haltlos“ in der Gegenwart. Einsamkeit, Entfremdung, fehlende Identität, Melancholie, Fragmentierung und Desorientierung sind darin die zentralen Themen. Genauso wie in der Fotoserie von Gustavo Minas. Nicht zufällig verweist allein schon deren Titel „Liquid Cities“ auf Baumans Gesellschaftsanalyse. Und die Aufnahmen dieses Langzeitprojekts erzählen davon. So vielsagend wie verwirrend. So wohlkomponiert wie irritierend, losgelöst von Zeit und Raum.

„Fotografie ist meine Art, mich mit der Welt um mich herum auseinanderzusetzen. Ein Werkzeug, um sie zu entdecken. Und, im wahrsten Sinne des Wortes, der Grund, warum ich jeden Morgen aufstehe, meist sehr früh, um das beste Licht zu erwischen.“

Erst die brasilianische Kuratorin Rosely Nakagawa habe ihn darauf hingewiesen, sagt Minas, dass Baumans Thema tatsächlich „einen Großteil meiner Arbeit durchdringt“. So entstand schließlich auch die Idee zu dieser Serie. Sie zeigt Menschen in anonymen Metropolen, gespiegelt in Fensterscheiben, Pfützen, Fassaden. Sie zeigt Menschen, oft Pendler, in U-Bahn-Aufgängen, in Unterführungen, in Flugzeugen, in Cafés, in Zügen, Bussen, an Bushaltestellen. In São Paulo, Brasília, New York, Mexiko-Stadt, Valencia und Lissabon. Es sind Menschen an Orten ohne Halt, an Orten des Transits, an Orten des unruhigen Übergangs.

„Ich glaube, dass das Licht das Alltägliche in etwas Außergewöhnliches verwandeln kann.“

Minas fotografiert seine Protagonisten aus irritierenden Perspektiven. Oft rätselt man lange, oft erschließt sich die Position des Fotografen für den Betrachter gar nicht. „Ich fotografiere durch Gläser oder andere spiegelnde Oberflächen. Zum einen ermöglicht es mir, nicht nur das zu zeigen, was sich vor mir befindet, sondern auch das, was sich hinter mir oder neben mir befindet“, beschreibt Minas seine Herangehensweise und erläutert: „Außerdem finde ich, dass die Vermischung paralleler Geschichten und Charaktere an verschiedenen Orten eine großartige Möglichkeit ist, das Chaos und die Reizüberflutung in Großstädten darzustellen. Wenn ich fotografiere, sehe ich nicht nur, sondern höre, rieche und fühle auch, und meine Aufnahmen sind eine vollständigere Darstellung dessen. Und schließlich gefällt mir das Gefühl der Orientierungslosigkeit und Verwirrung, das solche Bilder vermitteln können. Diese Art von Bildern kann manchmal etwas Geduld erfordern, bis alles an der richtigen Stelle sitzt. Ich bin immer auf der Suche nach diesem feinen Gleichgewicht zwischen Chaos und Ausgewogenheit.“

In diesem feinen, wohlkomponierten Chaos auf Minas’ Aufnahmen fließen Innen- und Außenräume ineinander. Mehrere verschachtelte Bildebenen und starke, filmische, manchmal fast mystische Lichtstimmungen entfernen seine vielschichtigen Aufnahmen von der Realität und visualisieren so nicht nur die Flüchtigkeit, sondern tatsächlich die Flüssigkeit des Augenblicks: Es sind höchst eindrucksvolle Momentaufnahmen und faszinierende Bildmetaphern für das Leben in „Liquid Cities“.

Vorgeschlagen wurde Minas’ Serie von Lois Lammerhuber, der zur diesjährigen Gruppe der 60 internationalen LOBA-Nominatoren gehörte. 

Gustavo Minas

1981 in Cássia in Brasilien geboren, studierte Gustavo Minas Journalistik an der Universität von Londrina und Fotografie bei Carlos Moreira. Seit 2009 ist er als Street-Fotograf tätig. 2017 gewann er mit „Bus Station“ den POY-Latam-Preis in der Kategorie „Zukunft der Städte“. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet und ausgestellt. 2019 erschien mit „Maximum Shadow Minimal Light“ seine erste Publikation bei der Edition Lammerhuber. Minas lebt in Brasília.

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Porträt: © Ale Ruaro