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Jordi Ruiz Cirera: On This Side There Are Dreams, Too

Jordi Ruiz Cirera: On This Side There Are Dreams, Too

Drogen, Korruption und Gewalt: Meist taucht die Grenzregion zwischen Mexiko und USA nur in negativen Schlagzeilen auf. Der spanische Fotograf interessiert sich für die Menschen hinter den Headlines, zeigt ihren Alltag, fragt nach ihren Hoffnungen und Träumen. Und schafft faszinierend unaufgeregte Aufnahmen: dokumentarisch und empathisch zugleich.

Sie hat vermutlich den schlechtesten Ruf der Welt: die Stadt Juárez. An der nördlichen Grenze Mexikos gelegen, sorgt sie regelmäßig für negative Schlagzeilen: Drogenkartelle, offene Gewalt, Migrationskonflikte. Zwischen 2008 und 2012 galt die 1,5 Millionen Einwohner zählende Stadt als gefährlichster Ort der Welt. Erpressungen und Entführungen standen an der Tagesordnung. International bekannt geworden ist Ciudad Juárez, als brutale Serienmorde an Frauen die Stadt erschütterten. Der Begriff „Femizid“ tauchte dort erstmals auf. Aufgeklärt ist kaum eines der Verbrechen. In den letzten Jahren hat Mexiko das Justizsystem gestärkt und in die dortige Verwaltung investiert. So zählt die Stadt seit einigen Jahren nicht mehr zu den 50 gewalttätigsten der Welt. Doch vieles von dem, was Juárez ins Verderben geführt hat, gibt es noch immer: schlecht bezahlte Jobs ohne Aufstiegsmöglichkeiten, Straßenbanden, Drogensyndikate und korrupte Behörden, mehr Plakatwände als Bäume sowie die verführerische Nähe zum Nachbarland USA – zum einen das ersehnte Auswanderungsziel, zum anderen aber auch jenes Land, das mit seinem unstillbaren Appetit auf Drogen und praktisch nicht existenten Schusswaffengesetzen seinen toxischen Beitrag zur Situation in der Region leistet. 

„Fotografie ist mein Weg, Geschichten zu erzählen.“

Ausgerechnet diese Gegend hat sich der Fotograf für seine Serie ausgesucht. 2017, als Donald Trump gerade den weiteren Ausbau der Grenzmauer zwischen Mexiko und USA beschlossen hatte, begann er mit diesem Fotoprojekt, das er im vergangenen Jahr beendete. Unbeirrt von den Schlagzeilen, konzentrierte sich Ruiz Cirera auf die Menschen, auf ihre Schicksale, ihren Alltag, ihre Träume und Hoffnungen. Ursprünglich wollte er die Grenzsituation von der mexikanischen Seite her erforschen und damit auch die Auswirkungen, die der Mauerausbau auf sie haben würde. „Der Schwerpunkt änderte sich jedoch komplett“, erinnert sich der spanische Fotograf, „als ich die Region kennenlernte. Schließlich konzentrierte ich mich auf die Landschaft und die Menschen hinter den Zeitungsschlagzeilen.“ In manchen Gegenden arbeitete er mit Stringern, mit Kontaktpersonen vor Ort, zusammen. Nur mit deren Hilfe konnte er überhaupt einschätzen, was oder wen er gefahrlos fotografieren sollte. Und nur so gelang es ihm, eine professionelle Distanz zu den erschütternden Schicksalen und Lebenswirklichkeiten der Migranten zu wahren, zu ihrer höchst vulnerablen, oft der offenen Gewalt ausgelieferten Existenz.

„Als Dokumentarfotograf suche ich nach einem Foto, das beides, den Kontext der Person oder der Situation, aber auch einen künstlerischen, visuell relevanten Ansatz enthält.“

Nicht zufällig betitelt Ruiz Cirera seine Serie mit „On This Side There Are Dreams, Too“, nicht zufällig sind auf seinen Bildern überwiegend einzelne, vereinzelte Personen zu sehen. Und man stimmt dem Fotografen unumwunden zu, wenn er über seine Aufnahmen sagt: „Das Motiv der Einsamkeit ist sehr präsent: Ich wollte, dass man auf ihnen die unsichtbare Spannung sieht, die ich oft spürte, genauso wie die Distanz, die Trennung und Isolation, die ich in der Gegend wahrgenommen habe.“ Meist erzählen sie von Tristesse und nur im Flüsterton von Auswegen und Plänen, nie aber von vollkommener Hoffnungslosigkeit. Es sind – gerade im Kontext dieser gewalt- und konfliktreichen Region – überraschend unaufgeregte Aufnahmen voll dokumentarischer Empathie.

Vorgeschlagen wurde Ruiz Cireras Serie von Zelda Cheatle, die zur diesjährigen Gruppe der 60 internationalen LOBA-Nominatoren gehörte. 

Jordi Ruiz Cirera

1984 in Barcelona geboren, ist Dokumentarfotograf und Filmemacher. Nach einem B. A. in Design schloss er sein Fotografiestudium am London College of Communication 2011 mit Auszeichnung ab. Seine Arbeiten werden in Publikationen wie dem Guardian, dem Spiegel und der New York Times veröffentlicht. Er erhielt internationale Auszeichnungen und wird weltweit ausgestellt. 2014 erschien mit „Los Menonos“ bei Éditions du LIC seine erste Monografie. Cirera ist Mitglied von Panos Pictures und der Agentur laif.

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Porträt: © Anna Huix