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Rania Matar: Fifty Years Later

Rania Matar: Fifty Years Later

Noch immer leidet der Libanon unter den Folgen des Bürgerkriegs, der vor 50 Jahren begann. Nach brutalen Auseinandersetzungen, korrupten Regierungen und monatelanger Abriegelung während der Covid-Pandemie stürzten die Explosionen im Hafen von Beirut das Land noch tiefer in die Krise. In ihrer Serie widmet sich die im Libanon geborene amerikanische Fotografin den libanesischen Frauen. Die Porträts stehen stellvertretend für die Hoffnungen, die Ängste und die Widerstandsfähigkeit einer ganzen Generation.

Ihre Bilder sind nah, manchmal erschütternd nah. Jedes Porträt, das Matar von den jungen libanesischen Frauen aufnimmt, steht für sich, als erzählte es ein ganzes Leben. Die Porträtierten sind verletzlich. Und stark. Weitermachen ist alles, was sie tun können. Sie alle eint dasselbe Schicksal: Sie sind im Libanon geboren, sie sind im Libanon geblieben. Die Schauplätze, die die studierte Architektin mit den Protagonistinnen ihrer Bilder zusammenführt, erzählen eine Geschichte von einem Leben, das es nicht mehr gibt.

2025 jährt sich der Beginn des libanesischen Bürgerkriegs zum 50. Mal. „Während wir uns diesem symbolischen Datum nähern, leidet der Libanon immer noch unter den Folgen“, sagt die Fotografin. „Das Land ist wirtschaftlich zusammengebrochen – es gibt Engpässe bei Bargeld, Gas, Strom, Medizin, sogar beim Wasser.“ Die Schichten der Zerstörung sind allgegenwärtig in dem Land, das sie vor knapp 40 Jahren verließ.

„Ich möchte die Geschichte der libanesischen Frauen mit den Augen einer Frau als unsere kollektive Geschichte erzählen. Die Frauen, das Land und die Architektur sind stark miteinander verwoben.“

„Es geht in den Bildern ums Exil – um mein eigenes, aber auch das der jungen Frauen – und um die schmerzhafte Entscheidung, die sie treffen müssen: Verlassen sie ihre Heimat, oder bleiben sie trotz aller schwierigen Bedingungen?“ Da ist zum Beispiel Fawzia. Sie trägt für die Aufnahme das Nachthemd ihrer Mutter und hofft darauf, dass die junge Generation das Land zu einem besseren Ort machen wird. Da ist Yasmina. Sie liegt in einem Gebäude wie in einer Metapher. Auf ihren Oberarm ist eine Schlange tätowiert – in ihrer Religion ein Symbol fürs Abweichen vom vorgeschriebenen Weg. Und da ist Mona. Mit mehreren Jobs erarbeitet sie sich in anstrengender Schichtarbeit ein Stück Unabhängigkeit für ihr Leben.

„Ich sehe in den Frauen mein jüngeres Ich, fühle ihre Hoffnungen, Schmerzen, Träume und Ängste. Ich war in ihrem Alter, als ich den Libanon 1984 während des Bürgerkriegs verließ.“

Rania Matars Fotografien sind Fenster zur Lebensrealität von Frauen im Libanon. Sie erzählen davon, wie Frauen in den Wunden einer Stadt stehen und weitermachen: wie sie tanzen, wie sie glauben, wie sie hoffen, wie sie allem trotzen – trotz alledem. Die verlassenen, zerstörten Gebäude, aber auch die Natur spielen eine wesentliche Rolle in ihren Fotografien. Wände werden bei ihr zu Wunden einer Stadt. Sie inszeniert eine junge Frau als Venus im Schutt, eine andere lässt sie vor einem alten Wandgemälde tanzen. Und dann ist da noch dieses eine Bild, das anders ist als all die anderen Bilder der Serie „Fifty Years Later“. Als wäre sie aus dem Rahmen getreten, fehlt hier die Protagonistin. Hoffnungsvolles Grün wächst ins Bild hinein: „Wohin soll ich gehen?“

Vorgeschlagen wurde Matars Serie von Antonia Benedetta Donato und Saeed Nassouri, die zur diesjährigen Gruppe der 60 internationalen LOBA-Nominatoren gehörten.

Rania Matar

wurde 1964 als Tochter palästinensischer Eltern im Libanon geboren und zog im Alter von 20 Jahren in die USA. Die mehrfache Mutter beschäftigt sich in ihrer Dokumentarfotografie mit Fragen der kollektiven Identität, mit interkulturellen Erfahrungen sowie der weiblichen Adoleszenz und dem Frausein. Die Arbeiten der ehemaligen Guggenheim-Stipendiatin wurden weltweit in namhaften Museen ausgestellt und mehrfach ausgezeichnet, u.a. 2022 mit dem Leica Women Foto Project Award. Rania Matar ist außerordentliche Professorin für Fotografie am Massachusetts College of Art and Design.

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Porträt: © Helena Goessens