Interview mit der japanischen Galeristin und Kuratorin Naoko Ohta

Das diesjährige Verfahren des Leica Oskar Barnack Awards (LOBA) geht in seine entscheidende Phase. Mittlerweile hat die Jury getagt und aus den Vorschlägen der internationalen Nominatoren eine Auswahl getroffen. Diese Shortlist wird im Juli auf der LOBA-Website vorgestellt. Es bleibt spannend. Bis dahin setzen wir unsere Reihe mit Nominatoren-Interviews fort. Diesmal berichtet die japanische Galeristin und Kuratorin Naoko Ohta, die bereits im letzten Jahr zu den LOBA-Nominatoren gehörte, über ihre Arbeit und Erfahrungen.

Wie haben Sie die durch die Pandemie geprägten Veränderungen in der Fotoszene im letzten Jahr erlebt?

Covid-19 hat dem internationalen Fotomarkt einschließlich Japan sicherlich einen Dämpfer verpasst. Andererseits hat es viele Fotografen dazu angeregt, den vielen Problemen der Pandemie mit neuer fotografischer Energie zu begegnen. Einige, die ihre Heimat oder ihre unmittelbare Umgebung nicht verlassen konnten, konzentrierten sich auf das, was sie von dort aus sehen konnten. Andere berichteten über die Missstände der leidenden Menschen in vielen Ländern, entweder aus einer größeren Perspektive oder indem sie sehr intime Szenen des Leidens, erneuerter Familienbande oder des Glücks der Heilung zeigten. Das kann die Welt der Fotografie positiv beeinflussen, wenn die Pandemie abklingt.

Was war für Sie persönlich besonders wichtig?

Der Abschluss des Drei-Jahres-/Drei-Länder-Projekts von Tokyo Curiosity mit fast 100 teilnehmenden Fotografen war eine große Belohnung und Motivation für meine Arbeit als Kuratorin. Diese Erfahrung war extrem wertvoll und wird meine zukünftige Arbeit leiten. Ich lade jetzt meine Batterien wieder auf, um neue Projekte in Angriff zu nehmen.

Worum geht es bei diesem Projekt?

Seit Jahrzehnten arbeite ich mit einer Gruppe von fast 100 Fotografen in Japan und mehr als 15 anderen Ländern zusammen. Besonders seit ich nach der Dreifach-Katastrophe des Erdbebens, des Tsunamis und des Atomunfalls in Japan 2011 eine Gruppe namens Tokyo-Ga gegründet habe, lag mein Fokus als Kuratorin in der Zusammenarbeit mit den Künstlern darauf, ein fantasievolles und zukunftsorientiertes visuelles Bild von Tokio und seinen Menschen zu zeigen, im Gegensatz zu vielen eher dystopischen Porträts in den globalen Medien. Unsere Aufgabe, so verstanden es viele nach 2011, war auch, eine wichtige Rolle bei der Bewahrung wertvoller Erinnerungen zu spielen.

Spiegeln sich diese Erfahrungen auch in Ihren LOBA-Vorschlägen als Nominatorin wider?

Seit Gründung der Gruppe sind 20 Jahre vergangen, und unser Fokus liegt nun darauf, durch die Kraft der Fotografie zu einer positiven Zukunft für die Menschen beizutragen, die in einer riesigen Metropole wie Tokio leben. Daher suchte ich bei meiner Auswahl der Nominierten nach Arbeiten, die das Unsichtbare sichtbar machen, Inspiration und Einsicht vermitteln, die Vorstellungskraft fördern und das gegenseitige Verständnis über Menschen und Ländergrenzen hinweg verbessern.

„Unter den vielen renommierten Fotopreisen ist der Leica Oskar Barnack Award ziemlich einzigartig.“

Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen angewandtem Fotojournalismus und freier Arbeit beim LOBA?

Der Fotojournalismus konfrontiert uns mit definierten Themen, seien es Kriege, soziale Ungleichgewichte, natürliche oder vom Menschen verursachte Katastrophen, auf der einen Seite und zeigt uns Beispiele für die Schönheit des Lebens, der Natur, der Freundschaft auf der anderen Seite. Freie Arbeiten sind, wie der Name schon sagt, nicht an Themen gebunden, sondern können jede Form annehmen. Ich glaube, beides kann im selben Wettbewerb Platz haben, wenn das Thema breit und abstrakt genug ist.

Was würden Sie jungen Fotografen raten, um für eine Förderung sichtbar zu werden?

Als Kuratorin arbeite ich mit einer Reihe von neuen Talenten zusammen, nicht unbedingt nur mit jungen Leuten. Mein Rat an diese Künstler ist, dass man, um sich einen weithin anerkannten Namen als Fotograf zu machen, sich zunächst bemühen muss, die bestmögliche Arbeit zu produzieren und einzureichen, die man erreichen kann, und daran zu arbeiten, sich ständig zu verbessern. Anerkennung geschieht selten über Nacht, sondern ist das Ergebnis jahrelanger harter und oft frustrierender Arbeit mit vielen Rückschlägen. Die Fotografen müssen also sehr engagiert und geduldig sein, mit anderen Worten, sie müssen Biss haben.

„Der einzigartige Nominierungsprozess des LOBA ist bereits ein Garant für ein vielfältiges Spektrum an Arbeiten. Die Definition des Ziels des Preises, Fotografie zu zeigen, die sich mit der Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt beschäftigt, ist weit gefasst und lässt endlose Interpretationen zu.“

Was sind Ihre Wünsche und Hoffnungen für die Fotografie in der Zukunft?

Eine der vielen Herausforderungen, denen sich Fotografen und Kuratoren stellen müssen, ist das explosive Wachstum der Smartphonefotografie mit ihrer ausgefeilten Softwaretechnologie, kombiniert mit der unaufhörlichen Verbreitung der sogenannten sozialen Medien, mit ihren vielen positiven Effekten für die globale Kommunikation, aber leider auch mit ihrer dunklen, ja gefährlichen Seite. Die Rolle der Fotografen und Kuratoren wird mehr denn je darin bestehen, Hüter der Wahrheit zu sein.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

Naoko Ohta

Naoko Ohta ist eine japanische Galeristin, Kuratorin, Herausgeberin und Dozentin (seit 2013 Gastprofessorin an der Taisho-Universität). Sie studierte Kunstgeschichte an der Waseda-Universität, Tokio, Japan, und in Cambridge, England. 1987 gründete sie die in Tokio ansässige Firma Klee Inc. Paris Tokyo und organisierte mehr als 250 Kunstausstellungen, hauptsächlich im Bereich Fotografie, sowohl in Japan als auch im Ausland, darunter „L’art de Rosanjin“ im Musée de Guimet, Paris. 2011 initiierte sie die NPO „Tokyo-Ga – Describing Tokyo Scapes by 100 Photographers“, deren Vorsitzende und Chefkuratorin sie ist, um Tokio nach der Dreifach-Katastrophe vom März 2011 zu dokumentieren. Von 1999 bis 2001 war Naoko Ohta die japanische Vertreterin bei den Rencontres Internationales de la Photographie d’Arles. Außerdem war sie von 1999 bis 2014 Fachberaterin für japanische Fotografie in der Sammlung der französischen Nationalbibliothek (BNF).

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Porträt © Yukari Chikura