Interview mit Steve McCurry – „Neugierde, Kraft und Ausdauer“

Mustafah Abdulaziz und Nana Heitmann gewinnen den LOBA 2019 – ihre überragenden Reportagen haben die Jury überzeugt. Der Fotograf Steve McCurry war als Juror an der Auswahl beteiligt – wir sprachen mit ihm über die Herausforderungen und die Bedeutung zeitgenössischer Reportagefotografie.

„Im Namen der gesamten Jury beglückwünsche ich die Gewinner des diesjährigen Leica Oskar Barnack Award, Mustafah Abdulaziz und Nanna Heitmann. Sie haben sich gegen die insgesamt rund 2300 Mitbewerber aus 99 Ländern durchgesetzt und die gesamte Jury mit ihren ausdrucksstarken, relevanten und bewegenden Bildserien überzeugt“, so Karin Rehn-Kaufmann, Art Director & Chief Representative Leica Galleries International. Der LOBA 2019 hat wieder ein breites Spektrum zeitgenössischer Fotografie versammelt, von künstlerischen bis klassischen Reportagen ist alles vertreten, was das Wettbewerbsthema – die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt – überzeugend visualisiert.

Die Gewinnerserie wird mit 25 000 Euro und einer Leica-M-Ausrüstung im Wert von rund 10 000 Euro honoriert; die Nachwuchspreisträgerin erhält 10 000 Euro und eine Leica M mit Objektiv. Die zehn anderen Finalisten können sich über ein Preisgeld von 2500 Euro freuen. Die Preisverleihung wird am 25. September in Berlin gefeiert; zuvor wird die große Ausstellung mit allen Gewinner- und Finalistenserien in der Neuen Schule für Fotografie Berlin eröffnet, die bis zum 25. Oktober 2019 geöffnet bleibt.

Über den diesjährigen LOBA und seine Erfahrungen bei der Jury-Sitzung sprachen wir mit dem Fotografen und diesjährigem LOBA-Juror Steve McCurry.

Die Jury-Mitglieder des Leica Oscar Barnack-Awards 2019

LFI: Mustafa Abdulaziz gewinnt den LOBA 2019 mit seiner Serie über Wasser, einem Thema von globaler Bedeutung, fotografiert in zeitloser Schönheit. Ihr Favorit für den Preis?

Steve McCurry: Es war wirklich schwierig, unter all den talentierten Fotografen auszuwählen, ihre Serien beleuchten einige der kritischsten Themen unserer Zeit. Es ist wichtig, aufstrebenden Fotografen, die zu einem besseren Verständnis für Umweltkrisen und Klimawandel beitragen, Sichtbarkeit zu geben. Die ästhetischen Kompositionen und die Beziehung, die er zu den Abgebildeten entwickelt hat, unterstreichen die Verzweiflung, die viele angesichts der fehlenden grundlegenden Ressourcen weltweit empfinden.

Abdulaziz’ Serie umfasst 32 Länder: Kann man eine bedeutsame Serie in nur zwölf Bildern zeigen?

Eine gute Auswahl hat die beste Ästhetik, Komposition und illustriert die Geschichte am besten. Dieser Prozess braucht Zeit, Geduld und Erfahrung. Wenn man für ein Projekt 32 Länder bereist hat, scheint es schier unmöglich, die Geschichte in zwölf Bildern zu erzählen. Man muss jedes einzelne Bild betrachten und prüfen, ob es die Geschichte weiter und die Idee auf den Punkt bringt.

Anders als Abdulaziz reiste die Nachwuchspreisrägerin Nanna Heitmann „nur“ in eine entlegene Region Sibiriens. Ihre Reportage erzählt einfühlsam von einer fernen Welt. Ist das zeitgenössische Reportagefotografie?

In der Reportagefotografie geht es darum, welches Thema den Fotografen packt, was ist so wichtig, dass man viel Zeit und Energie darauf verwendet. Ich finde, es gibt keinen großen Unterschied dazwischen, wie man eine Geschichte heute erzählt oder vor 50 Jahren erzählt hätte. Natürlich hat sich die Technik verändert und viele schauen nach neuen Wegen, eine Geschichte zu erzählen.

Was erwarten Sie von zeitgemäßer Reportagefotografie und was bedeutet das für den LOBA?

Zeitgenössische Reportagefotografie spielt kreativer mit politischen, sozialen und umwelttechnischen Aspekten des Lebens. Sie erreicht ein größeres Publikum, da sie über Magazinpublikationen hinausreicht. Heute sieht man Reportagefotografie in Ausstellungen, Büchern, Projektionen oder auf der Straße. Ich glaube wirklich, dass alle Mauern, Papiere, Bücher, Monitore, die die Welt, in der wir leben, zeigen, dazu beitragen werden, die Menschen zu bilden. Der LOBA spielt bei dieser Aufgabe eine aktive und positive Rolle.

„In der Reportagefotografie geht es darum, welches Thema den Fotografen packt, was ist so wichtig, dass man viel Zeit und Energie darauf verwendet.“

Der diesjährige Fokus scheint auf „klassischen“ Reportagethemen in aktuellem Kontext zu liegen – Krieg, Migration, Krisen, Umwelt, menschliche Beziehungen. Ist es das, worum es bei der Fotografie gehen sollte?

Ich kann mir nichts Wichtigeres vorstellen, als all das zu dokumentieren, was die Menschen auf unserem Planeten beeinflusst. Fotografie wie Malerei, Literatur oder Skulptur sollte von Freiheit und künstlerischem Ausdruck geprägt sein. Allerdings tendiere ich eher zu Geschichten, die mir die Welt durch das Objektiv eines anderen erklären. In der Zeit, in der wir leben, gibt es so wichtige Geschichten zu erzählen: Rasse, Migration, Klimawandel, das sind die Themen, die bedeutend sind, die wir untersuchen müssen.

Was wünschen Sie sich von zukünftigen LOBA-Bewerbern?

Lieber wünsche ich ihnen etwas: dass sie ihre Leidenschaft finden und sie mit all ihrer Neugierde, Kraft und Ausdauer verfolgen.

Steve McCurry

Fotograf & Gründer ImagineAsia

Steve McCurry ist seit über drei Jahrzehnten eine der bekanntesten Stimmen in der modernen Fotografie. Sein Werk umfasst eine große Zahl von Magazin- und Bucheinbänden, über ein Dutzend Bücher und zahllose Ausstellungen auf der ganzen Welt.
 
Geboren wurde McCurry in einem Vorort von Philadelphia, Pennsylvania. Im Anschluss an sein Studium der Filmwissenschaften an der Pennsylvania State University arbeitete er bei einer lokalen Zeitung. Nach mehreren Jahren selbständiger Tätigkeit reiste McCurry erstmals nach Indien, wo es ihn noch viele Male hinziehen sollte. Mit wenig mehr Gepäck als einer Tasche für Kleidung und einer zweiten für Filme bereiste er den Subkontinent, um das Land mit seiner Kamera zu erforschen.
 
Nachdem er mehrere Monate unterwegs war, überquerte er schließlich spontan die Grenze zu Pakistan. Dort traf er auf eine Gruppe von Flüchtlingen aus Afghanistan, die ihn über die Grenze in ihr Land schmuggelten, gerade zu der Zeit, als die einmarschierende russische Armee das Land für alle westlichen Journalisten abriegelte. Als er nach drei Wochen unter den Mudschahedin in traditionellem Gewand mit Vollbart und wettergegerbtem Gesicht wieder ausreiste, brachte McCurry der Welt die ersten Bilder von dem Konflikt in Afghanistan. Dadurch erreichte er, dass die Tragik dieses Kriegs auf jeder Titelseite durch Gesichter menschlicher Einzelschicksale begreifbar wurde.
 
Seither hat McCurry atemberaubende Bilder aus sechs Kontinenten in zahllosen Ländern eingefangen. Seine Arbeit umspannt Konflikte, verschwindende Kulturen und uralte Traditionen ebenso wie moderne Kultur, bewahrt sich dabei jedoch stets das menschliche Element, das sein unvergessliches Porträt des afghanischen Mädchens zu einem so ausdrucksstarken Bild machte.
 
McCurry wurde mit einigen der renommiertesten Auszeichnungen der Branche gewürdigt, wie unter anderem der Robert Capa Goldmedaille, dem National Press Photographers Award und bis dahin unerreichten vier ersten Preisen bei dem Wettbewerb World Press Photo. Darüber hinaus wurde McCurry vom französischen Kulturminister zum Ritter des Ordens der Künste und der Literatur ernannt und vor Kurzem von der Royal Photographic Society in London mit der „Centenary Medal for Lifetime Achievement“ ausgezeichnet.
 
Daneben hat McCurry seit 1985 bis heute zahlreiche Bildbände veröffentlicht.

Porträt: © Bruno Barbey