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Wendy Watriss – Die Auswirkungen von Agent Orange, 1982

Interview mit Wendy Watriss, die 1982 als erste Bildjournalistin den Leica Oskar Barnack Award gewann

Wendy Watriss gehört zweifellos zu den renommiertesten Vertreterinnen eines engagierten Bildjournalismus in den USA. Zugleich ist ihr Name untrennbar mit dem Festival FotoFest International verbunden, das sie bereits 1983 mit ihrem Mann Fred Baldwin und der deutschen Kunsthistorikerin Petra Benteler in Houston, Texas, gründete. FotoFest hat sich in seiner 37-jährigen Geschichte als eines der wichtigsten Fotofestivals etabliert. 2020 musste es wegen der Corona-Pandemie bereits nach einer Woche abgebrochen werden.
Watriss und Baldwin gelten als „Powercouple“ der Foto-Community in den Vereinigten Staaten. Aufgrund ihrer zahlreichen Verpflichtungen und Engagements vernachlässigten sie dabei häufig ihre eigene fotografische Arbeit. Als Fotografin ist Watriss schon lange beruflich mit Leica verbunden. Wir sprachen mit ihr über ihre Erfahrungen und die Serie „Die Auswirkungen von Agent Orange“, für die sie 1982 mit dem Leica Oskar Barnack Award ausgezeichnet wurde.

Was war Ihre persönliche Motivation, Ihre Serie „Die Auswirkungen von Agent Orange“ zu beginnen?

Ich stand dem US-Krieg in Vietnam äußerst kritisch gegenüber. Als ich Anfang der 1970er-Jahre meine Tätigkeit als Zeitungsreporterin und TV-Produzentin aufgab, um freiberuflich als Fotografin und Autorin tätig zu werden, suchte ich nach einem Weg, über den Krieg zu berichten, der seine Defizite und Brutalität aufdeckt. Gegen Ende des Jahrzehnts erfuhr ich, dass wir das Herbizid Agent Orange als Kriegswaffe einsetzten. Es war nur sehr wenig darüber veröffentlicht worden. Kriegsveteranen versuchten, Öffentlichkeit herzustellen, aber sie fanden kein Gehör.

Letztlich stand ich noch am Anfang meiner Karriere, aber ich war eng mit der bekannten, preisgekrönten Kriegskorrespondentin Gloria Emerson befreundet. Wir sprachen über Agent Orange und sie gab mir den Namen eines „Life“-Redakteurs, ein Magazin, das in jener Zeit noch sehr populär war. John Larsen war als Korrespondent in Vietnam gewesen und hatte den Krieg aus nächster Nähe erlebt. Ich schlug eine Geschichte über Agent Orange und seine Auswirkungen auf die US-Veteranen vor. Er war interessiert: „Nehmen Sie sich zwei Monate Zeit und beginnen Sie mit der Arbeit, dann entscheiden wir weiter“, sagte er.

Das tat ich. Schon einige der frühen Bilder der Serie gehören zu deren stärksten Aufnahmen. Diese Bilder habe ich zusammen mit den umfangreichen Recherchen, die ich zusammengestellt hatte, „Life“ präsentiert. Larson sagte sofort: „Ja, wir werden die Story machen.“ Sie gaben mir für die Arbeit fast ein Jahr Zeit und beauftragten eine Autorin, aber ich habe sie nie gesehen. Wir arbeiteten getrennt. Meine Bilder standen im Vordergrund, es war vor allem eine Fotostory.

„Als Frau allein zu arbeiten, war damals nicht immer einfach. Frauen hatten gerade erst begonnen, in wichtige Positionen in den Medien und in männlich dominierte Themen wie die Kriegsberichterstattung vorzudringen. Ich musste Glaubwürdigkeit und Vertrauen aufbauen.“

Was waren für Sie als Fotografin damals die größten Herausforderungen?

Als Zivilistin brauchte es Wissen, Zähigkeit, Ausdauer, Sanftmut und die Fähigkeit, Selbstvertrauen zu vermitteln. Vor allem aber die Fähigkeit, ernsthaft zuzuhören. Ich bin eine sehr gute Ermittlerin. Ich war sehr vorsichtig bei der Auswahl der Veteranen, die einen direkten Kontakt zu Agent Orange hatten. Notwendigerweise mussten auch ihre Familien einbezogen werden, denn ihre Frauen und Kinder litten an ihrer Seite. Je mehr ich erfuhr, desto wütender wurde ich. Die Ehefrauen der Veteranen und die Mütter ihrer Kinder waren die größte Hilfe. Auch sie waren wütend und hatten keine Angst, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der Serie aus heutiger Sicht ein?

Diese Serie war in mehrfacher Hinsicht sehr wichtig. Erstens für die Veteranen und das Thema selbst. Ich wollte mit den Bildern einen sozialen Wandel herbeiführen und das haben wir erreicht. Mit den Fotos, den Veteranen und unseren Kontakten zur Legislative konnten wir eine breite Öffentlichkeit erreichen und auf die Gesetzgebung im Bundesstaat Texas Einfluss nehmen, der Gesetze zur medizinischen Erforschung und Behandlung von Krankheiten im Zusammenhang mit Agent Orange erließ, die diese Gesundheitsprobleme als Kriegsverletzungen anerkennen. Dann ging es nach Washington D.C. zum US-Kongress. Wir machten eine Ausstellung in der Rotunde des Capitols. Diese Aktionen, die Geschichte in „Life“ und die Preise für die Serie brachten nationale und internationale Aufmerksamkeit für das Thema Agent Orange, seine Auswirkungen auf das menschliche Leben und die Umwelt.

Die Serie ist ein Beispiel dafür, wie Fotografie genutzt werden kann, um echte soziale Veränderungen herbeizuführen. Ich sage oft, dass diese Art der Fotografie nicht unbedingt ein Generator für den Wandel ist, aber sie kann als Katalysator und Werkzeug bemerkenswert wirksam sein, nämlich wenn der Fotograf bereit ist, den nächsten Schritt zu tun und die Menschen und Institutionen zu organisieren und zusammenzubringen, um materielle Veränderungen bewirken zu können.

Was hat der LOBA rückblickend für Sie und Ihre weitere Karriere bedeutet?

Es hat mir geholfen, zusätzliche Aufträge von „Life“ und vielen anderen Medien zu erhalten. Ich denke, es hat meinem Ansehen auf dem Gebiet der Fotografie insgesamt zusätzliche Glaubwürdigkeit verliehen. Es war sicherlich ein unbeabsichtigter Katalysator für die Entstehung von FotoFest in Houston. Ich gewann 1982 den Leica Oskar Barnack und den World Press Photo Award und im folgenden Jahr gründeten wir das Festival. Nachdem ich die Preise gewonnen hatte, wurden Fred Baldwin und ich 1983 zu den Rencontres d’Arles eingeladen, wo wir die Idee für FotoFest entwickelten und ein neues internationales Programm-Netzwerk für Fotografen. Unsere Idee war es, eine Plattform für Kunst und Ideen zu etablieren, die der Welt für Fragen von gesellschaftlichem Interesse offensteht.

FotoFest International hat die Organisation vieler ähnlicher unabhängiger Festivals auf der ganzen Welt angeregt und damit eine ganze Reihe von Portfoliobesprechungen für Fotografen. Die erste FotoFest Biennale fand 1986 statt. Seit den frühen 1990er-Jahren habe ich FotoFest für die nächsten 30 Jahre kuratiert und geleitet. Während dieser Zeit habe ich sehr wenig für meine eigene Fotografie getan. Jetzt fange ich wieder damit an.

Woran arbeiten Sie denn im Moment?

An vielen Dingen gleichzeitig. Ich arbeite mit russischen Kuratoren an einem Buch über das Wiedererstehen der kreativen Sprache in der zeitgenössischen russischen Fotografie, ich arbeite an einem Highschool-Lehrplan zur US-Geschichte und zu Rassenverhältnissen. Letzteres basiert auf einem Kurzfilm, den Fred und ich über unsere frühe fotografische Arbeit in Texas gedreht haben. Fred und ich arbeiten auch an einem Buch über die Geschichte unserer persönlichen und beruflichen Zusammenarbeit. Wir planen die Herausgabe eines Buchs über FotoFest. Und wir haben ein zweijähriges Archivierungsprojekt für das Briscoe Center for U.S. History, ein wichtiges Forschungszentrum an der Universität von Texas, Austin. Die Arbeiten von Fred und mir, unser persönliches und berufliches Schreiben und Fotografieren, werden dort mit einer großen Ausstellung und Publikation archiviert werden. Die Agent-Orange-Reihe und das Material über den Leica Oskar Barnack Award werden dort für zukünftige Forscher und Schriftsteller zur Verfügung stehen.

Was möchten Sie jungen Fotojournalisten und Fotografen heute raten?

Trotz anhaltender Unsicherheiten bei logistischen und finanziellen Aspekten der Dokumentarfotografie denke ich, dass es dort breite und spannende Möglichkeiten gibt. Leidenschaft und Engagement sind unerlässlich, denn es ist kein leichter Weg. Es ist ein sehr harter Weg innerhalb und zwischen den Medien.

Wendy Watriss

1943 in San Francisco geboren, wuchs Watriss in Griechenland, Spanien, Frankreich und den USA auf. Ihr Studium an der New York University schloss sie mit Auszeichnung ab, arbeitete als Zeitungsreporterin in Florida und später als Produzentin von Dokumentarfilmen. Ab 1970 war sie als freiberufliche Autorin und Fotografin tätig. Gemeinsam mit Fred Baldwin und der deutschen Kunsthistorikerin Petra Benteler gründete sie 1983 das FotoFest International in Houston, Texas, und war für viele Jahre dessen leitende Kuratorin. Zahlreiche Veröffentlichungen und Auszeichnungen, darunter die Icon of Photography der National Society of Photographic Education. Ihre Archive gehen an das Briscoe Center for American History an der University of Texas in Austin. Die Menil Collection in Houston verfügt über eine umfangreiche Sammlung ihrer Werke.