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Bertrand Meunier, REC

Was macht eigentlich … Bertrand Meunier

Vor 20 Jahren wurde der französische Fotograf für seine Serie „Erased“ mit dem Leica Oskar Barnack Award ausgezeichnet. In schwarzweißen Bildmotiven berichtete er von den Folgen des wirtschaftlichen Niedergangs großer chinesischer Industriestädte für die dort lebenden Menschen. Die Auseinandersetzung mit chinesischen Themen blieb weiterhin zentral für sein Werk. Wir präsentieren seine aktuelle Serie „REC“. Seine Bildsprache hat sich verändert, nicht jedoch seine Kameratechnik. Auch für die neue Serie hat er mit einer Leica MP mit 35-mm- und einer Leica M6 mit 50-mm-Optik gearbeitet.

Was schätzen Sie an der analogen Schwarzweiß-Fotografie besonders?

Mit Schwarzweiß hat man genügend unterschiedliche Farben, eine große Palette von Grautönen. Und ich verwende gern den von mir selbst hergestellten Entwickler für meine Filme.

Bereits Ihre LOBA-prämierte Serie wirkte nicht wie eine klassische fotojournalistische Arbeit, sondern Sie haben sich hier für einen kinematografischen Ansatz entschieden. Wie würden Sie Ihren Stil beschreiben?

Ich vermute, ich bin kein großer Fan des Fotojournalismus. Ich habe einfach Angst, zu direkt zu sein, ohne jegliche Nuancen. Ich bin mit dem Kino aufgewachsen. Wegen Tarkowski und Bergman habe ich mit der Fotografie begonnen, ich liebe die Poesie dieser Filmregisseure. Sie drängen dem Betrachter keine große Aussage auf. Vielleicht mag ich es, meine Arbeit als etwas nicht allzu Direktes aufzubauen. Alles muss mit meinem eigenen fotografischen Stil und der Art von seltsamer Atmosphäre zusammenpassen.

Mit „Erased“ zeigten Sie Phänomene des Landes, die damals eher übersehen wurden.

Ja, „Erased“ war eine fotografische Konstruktion, um das Ende der chinesischen Gesellschaft als Kollektiv (als maoistische Idee) zu beschreiben. Es ging mir um die Tatsache, dass die chinesische Gesellschaft kein Gedächtnis hat oder, um genauer zu sein, die chinesische Gesellschaft nicht die gesamte Realität ihrer eigenen Geschichte kennt. China hat einige kritische politische Momente ausgelöscht. Das chinesische Volk wächst ohne das vollständige Wissen über die chinesische Vergangenheit und Geschichte auf. Meine Serie war ein Versuch, durch ihre Konstruktion die Erinnerung an den Arbeiterstaat aufrechtzuhalten, auch wenn es der letzte Atemzug der maoistischen Utopie war.

„‚REC‘ ist ein neuer Versuch, die Realität der heutigen chinesischen Gesellschaft zu beschreiben. Die gesamte Gesellschaft ist unter Kontrolle. Das ist eine Tatsache. Dein Gesicht wird überwacht, aufgezeichnet und die eigene Freiheit, allein zu sein, gehört der Vergangenheit an.“

Wie schließt sich nun die neue Serie „REC“ an Ihre Arbeit von damals an?

Nun, ich möchte durch diese Bilder auf die Tatsache aufmerksam machen, dass die chinesische Gesellschaft komplett überwacht und aufgezeichnet wird. Jeder steht unter den Augen der Regierung. Jeder kann beobachtet, kontrolliert und aufgezeichnet werden. Alle chinesischen Bürger wissen das. Überall hat man Kameras und Bildschirme. Es ist eine neue kollektive politische Form, um die gesamte chinesische Bevölkerung zu kontrollieren.

Wo haben Sie die Motive der Serie fotografiert?

Auf Bahnhöfen in Peking. Dahinter stand die Idee, an einem zentralen Ort des politischen Systems zu fotografieren. Seit Xi Jinping an der Macht ist, hat sich die Situation in China radikal verändert. Es ist schrecklich. Es gibt keinen individuellen Freiraum mehr. Es wird immer schwieriger, in China man selbst zu sein. Jeder hat Angst, einen Fehler zu machen.

Wie haben Sie das letzte Jahr überstanden?

Neben der Ausarbeitung von „REC“ habe ich mich mit meiner eigenen familiären Covid-Situation beschäftigt. Daran arbeite ich noch immer. Die Serie heißt „Les déracinés“ (auf Deutsch etwa „Die Entwurzelten“). Außerdem arbeite ich an einem Projekt an der Grenze zwischen Frankreich und Luxemburg und ich beende gerade einen Dokumentarfilm über ein Gefängnis in Frankreich. Ich bin also sehr beschäftigt.

Planen Sie, die „REC“-Serie als Buch und Ausstellung zu präsentieren?

Ja, daran wird gearbeitet. Die französische Nationalbibliothek, BNF, hat gerade einige Abzüge für die nationale Sammlung gekauft.

Wann waren Sie das letzte Mal in China und wann planen Sie, wieder dorthin zu reisen?

Im Dezember 2019 und ich hoffe, im Jahr 2022 wieder nach China reisen zu können.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bertrand Meunier

Bertrand Meunier wurde 1965 im zentralfranzösischen Nevers geboren. 1993 begann er sich die Fotografie autodidaktisch zu erarbeiten. Seine langjährige Beschäftigung mit China veröffentlichte er 2005 in dem Bildband „Le sang de la Chine“ (Das Blut Chinas). Er hat zahlreiche Dokumentarfilme über verschiedene Länder und Themen gedreht. Sein Werk wurde mehrfach ausgestellt und ausgezeichnet. Meunier ist Mitglied des Fotografenkollektivs Tendance Floue. Er lebt und arbeitet in Paris.

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Porträt: © Patrick Tourneboeuf / Tendance Floue