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Gianni Berengo Gardin – La Disperata Allegria, 1995

Gianni Berengo Gardin – La Disperata Allegria, 1995

Mit seiner Serie über das Alltagsleben von Roma-Familien in Florenz konnte der italienische Fotograf 1995 die Jury des Leica Oskar Barnack Awards überzeugen. Bei der 15. Verleihung wurde die Auszeichnung erstmals in Verbindung mit den Rencontres de la Photographie in Arles angekündigt und am Abend des 9. Juli im antiken Theater von Arles an Gianni Berengo Gardin übergeben.

Ausgangspunkt für die Serie war der Kontakt des Fotografen zur Präsidentin der Vereinigung für die Verteidigung der Minderheitenrechte in Florenz: „Sie wollte, dass ich eine junge Roma-Familie fotografiere. Die Anwälte der Vereinigung hatten es geschafft, die Wegnahme eines ihrer kürzlich geborenen Söhne zu verhindern. Eine abscheuliche Praxis, die unter den Richtern in Italien sehr verbreitet war“, erinnert sich der Fotograf. Das Projekt sollte sich schnell erweitern, doch zunächst einmal musste der Fotograf ein Vertrauensverhältnis aufbauen: „Ich stellte mich zunächst ohne Kameras vor, begleitet von den Mitgliedern des Vereins, um die Menschen kennenzulernen und eine Vorstellung von ihrer Lebenssituation zu bekommen. Aus dieser Begegnung mit der harten Realität des Roma-Lagers kam mir die Idee zu dieser Serie.“ Ganz allmählich gelang es Berengo Gardin in den folgenden Wochen mit seiner Leica M einen direkten, vertrauensvollen Einblick in das Alltagsleben der Familien zu erhalten: „Anfangs waren sie zu Recht misstrauisch, aber als sie verstanden, was ich tun wollte, waren sie von unglaublichem Wohlwollen und Großzügigkeit. Sie begannen, mich ‚Opa Gianni‘ zu nennen und öffneten mir ihr Haus, damit ich an Momenten ihres täglichen Lebens teilnehmen und sie fotografieren konnte, in guten wie einer Hochzeit oder den Vorbereitungen für das Weihnachtsessen, aber auch in traurigen wie der Beerdigung eines Kindes.“ Aus der Arbeit über die Roma konnte der Fotograf dann auch eine Ausstellung in Florenz sowie ein begleitendes Buch unter dem Titel „La disperata allegria“ (Die verzweifelte Freude) realisieren. Die Einleitung des Bildbands verfasste der deutsche Schriftsteller Günther Grass. „Die Ausstellung und das Buch wurden von den Medien gut besprochen, mehr noch nachdem ich den Leica Oskar Barnack Award erhalten hatte. Was die Öffentlichkeit betrifft, so war die Resonanz gut, aber dieses Thema ist so kontrovers, dass ich nicht weiß, ob sie die Botschaft wirklich verstanden haben“, so der Fotograf rückblickend.

„Mein Ziel war es, nicht nur das Schlechte, die schwierigen Bedingungen, unter denen sie lebten wie die Kälte, die Hitze, den Schlamm, den Schmutz, den Wassermangel, die Krankheiten usw., zu dokumentieren, sondern auch das Gute, wie die Traditionen, die Feste, die familiären Anlässe. Kurz gesagt, das tägliche Leben der Roma in jeder Hinsicht.“

Gianni Berengo Gardin hat den italienischen Bildjournalismus über viele Jahrzehnte maßgeblich geprägt. Sein unvergleichlicher Blick auf Land und Leute, den Alltag und die besonderen Momente des Lebens lassen seine Arbeiten unverwechselbar erscheinen. Immer wieder ist es ihm gelungen, die Balance zwischen tagesaktueller Bilderzählung und zeitlosem Moment zu halten. Er veröffentlichte nicht nur in Zeitungen und Magazinen: Die Zahl seiner Buchpublikationen beläuft sich mittlerweile auf sagenhafte 200 Titel. Wiederholt hat der Fotograf auf das Leben der Roma in Italien geblickt, so fotografierte er 1996 eine Reportage über eine muslimische Roma-Gemeinschaft in Palermo. Auch diese Serie konnte er in einem Buch veröffentlichen: „Zingari a Palermo“. Gefragt nach der aktuellen Lebenssituation der Roma in Italien antwortet der Fotograf wenig zuversichtlich: „Die Diskriminierung ist noch immer sehr verbreitet. In Italien hat jede Gemeinde eigene Richtlinien. In einigen Fällen ist die Situation besser, weil einige der großen Lager geschlossen wurden und die Menschen in kleinen Lagern oder in Häusern verteilt sind, in anderen ist die Situation schlechter. Jeder Versuch, eine Lösung zu finden, um ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, muss sich mit dem Widerstand der örtlichen Gemeinden herumschlagen. Außerdem nutzen die Lega und die rechten Parteien die Situation aus, um Zustimmung zu erhalten.“

(Text verfasst 2020)

„Das war, zusammen mit der Arbeit in den psychiatrischen Kliniken, die ich 1969 machte, die Serie, die mich emotional am meisten beschäftigte und auf die ich am meisten stolz bin.“

Gianni Berengo Gardin

Gianni Berengo Gardin, am 10. Oktober 1930 in Santa Margherita (Ligurien) geboren, verbrachte seine Kindheit in Rom. Berengo Gardin arbeitete bis 1965 als Fotoreporter für die Zeitschrift „Il Mondo“. 1964 zog er nach Mailand, wo er ein Studio für Mode-, Werbe- und Still-Life-Fotografie eröffnete. Berengo Gardin erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Prix Brassaï 1990. 2017 wurde er in die Leica Hall of Fame aufgenommen.

Porträt: © Maurizio Beucci