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1998 – Fabio Ponzio, East of Nowhere

Fabio Ponzio – East of Nowhere, 1998

Der Osten: Ein weites, geheimnisvolles Gebiet, dass es zu erkunden gilt. Über 20 Jahre lang und mehr als 250.000 Kilometer weit reiste der italienische Fotograf mit seiner Kamera durch fremdes Leben und andere politische Systeme. 1998 erhielt er dafür den Leica Oskar Barnack Award.

Eine Himmelsrichtung und eine Idee: Als Fabio Ponzio im Dezember 1987 das erste Mal Istanbul besuchte, bemerkte er, wie diese europäische Stadt sich von den Städten Westeuropas unterschied. Und er begann, sich den fremden Kulturen, Traditionen und sozialen Realitäten zu widmen. Vom Balkan, über das übrige Osteuropa bis hin zum Kaukasus – mit lokalen Bussen und in einem roten Volkswagen, in dem er kochte und schlief, durchquerte er eine Welt voller Geschichte und Geheimnisse, in der es, wie er sagt, möglich war, das Wesen des menschlichen Lebens klarer zu erkennen.

„Für mich war Osteuropa ein einziges großes Land, von Istanbul bis Moskau, von Prag bis Tiflis, von den Karpaten bis zum Kaukasus. Auf meinen Reisen durch diese Gebiete habe ich die tiefe Seele Europas entdeckt.“

Er erkundete christlich-orthodoxe Gemeinden im katholischen Polen, tschechoslowakische Dörfer in Rumänien, er sah Jugoslawien in der Krise und am Abgrund des Krieges, die Aufstände in Prag und Bukarest, absolute Armut in Albanien, die Schlangen beim Broteinkauf im kommunistischen Polen und erschöpfte Bergarbeiter am Ende eines Arbeitstags in der Region Kattowitz. Seine Bilder sind Dokumente des menschlichen Daseins im Zuge von Zusammenbruch, Veränderung und Neuanfang; von Leid, Korruption und Systemwechsel. Zugleich aber sind sie Zeugnisse von Energie und Überlebenswillen. Er sagt: „In Osteuropa war das Leben sicherlich schwieriger als im Westen, aber die Menschen hatten sich an diese Art von Leben gewöhnt. Ich fand keine Verzweiflung, sondern eher eine resignierte Akzeptanz ihres Schicksals. Ich sah viel Elend, aber auch eine große Widerstandskraft, die den Menschen das Überleben ermöglichte.“

„Der LOBA war eine wichtige Anerkennung für ‚East of Nowhere‘. Vor allem aber war es eine psychologische Hilfe, die mir noch mehr Energie bei der Fortsetzung meiner Arbeit gab. Wenn man ein langfristiges Projekt hat, ist es sehr wichtig, sich unterstützt zu fühlen.“

22 Jahre lang fuhr er durch die Länder des Ostens. Oft kehrte er an dieselben Orte zurück, um die Realität, die er fotografierte, wirklich zu verstehen. Um seinen Bildern eine Tiefe zu geben. Auf den Reisen ist er vielen Einheimischen begegnet, und viele davon sind seine Freunde geworden. Sie haben ihn mit Verständnis und Großzügigkeit empfangen, sie hießen ihn in ihren Häusern willkommen und unterstützten ihn bei seinem Vorhaben. „Die Menschen, die ich fotografierte, haben immer verstanden, dass es mein Ziel war, ihnen eine Erinnerung zu geben“, sagt er. „Darin liegt für mich auch die Hauptaufgabe des Fotografen: Es ist mir wichtig, dass ihr Leben im kollektiven Gedächtnis bleibt.“

Seine Serie „East of Nowhere“ ist ein Konzentrat dieses Vermächtnisses. Eine Erzählung über die im Osten lebenden Europäer zu einer einzigartigen und nicht wiederholbaren Zeit. Ein Porträt über eine Gesellschaft, die sich auch nach der Wende 1989 fast zwei Jahrzehnte lang kaum verändert hat. In der Marktwirtschaft und Freiheit zwar große Begriffe, aber kaum umsetzbar waren. Der Wandel von Perestroika und Glasnost hatte zur Krise der verschiedenen kommunistischen Systeme geführt. Und genau von diesem Drama zeugt Ponzios groß angelegtes Projekt, in dem er versucht hat, die verbindenden Elemente der osteuropäischen Völker, ihre gemeinsamen Nöte und ihren Kampf um die Zukunft herauszufinden und fotografisch festzuhalten.

„Für mich muss die Hauptaufgabe des Fotografen darin bestehen, den fotografierten Menschen eine Erinnerung zu geben. Es ist mir wichtig, dass das Leben der bescheidenen und außergewöhnlichen Menschen, die ich fotografiert habe, im kollektiven Gedächtnis bleibt.“

1998 gewann er dafür den Leica Oskar Barnack Award – für ihn eine wichtige Anerkennung. Vor allem aber: eine psychologische Hilfe, die ihm noch mehr Energie für die Fortsetzung seiner Arbeit gab. „Wenn man ein langfristiges Projekt hat, ist es sehr wichtig, sich unterstützt zu fühlen“, findet er. Am Abend der Preisverleihung erhielt er von Leica zwei M6 als Geschenk. Eine dieser Kameras hat er in den folgenden Jahren zur Fortführung seiner osteuropäischen Serie verwendet, und die zweite benutzt er jetzt für sein neues Langzeitprojekt. Dieses führt ihn nach Westeuropa, in einen völlig neuen sozialen und visuellen Kontext. Ponzio hat Osteuropa seit zehn Jahren nicht mehr besucht. Aber auch wenn seine Augen jetzt nach Westen blicken, sagt er, sei sein Herz im Osten geblieben.

(Text verfasst 2020)

Fabio Ponzio

Fabio Ponzio wurde 1959 in Mailand geboren. Sein Interesse an der Fotografie begann 1976 während einer Reise auf dem Balkan. Europa, das Reisen und die Fotografie, sollten in den kommenden Jahren den Mittelpunkt seines Lebens bilden. Für seine Serie „East of Nowhere“ bekam er neben dem LOBA auch den European Kodak Award of Photography und den Mother Jones Foundation Award for Documentary Photography. Im April 2020 wird „East of Nowhere“ von Thames and Hudson in Großbritannien und den USA sowie von Actes Sud in Frankreich veröffentlicht. Derzeit arbeitet Fabio Ponzio an einem Projekt über Westeuropa. Dabei verwendet er eine Leica M6 mit Elmarit-M 1:2.8/28 ASPH., Summicron-M 1:2/35 ASPH. und Summicron-M 1:2/50.

Porträt: Pigi Cipelli

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Mit einer ehrenvollen Erwähnung wurde 1998 die Serie „Solo“ des portugiesischen Fotografen Paulo Nozolino ausgezeichnet.