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Leica Oskar Barnack Award 2004: Peter Granser „Coney Island“

Peter Granser – Coney Island, 2004

Ein Ort im Umbruch, ein Mythos, der längst in Vergessenheit geraten ist: Das früher einmal legendäre Vergnügungszentrum wird in der mit dem LOBA 2004 ausgezeichneten Serie in seiner fast erloschenen Mischung aus banaler Heiterkeit und beklemmender Nichtigkeit festgehalten.

Einst war Coney Island einzigartig. Das ist lange her. Der wunderbar morbide Charme des in die Jahre gekommenen Vergnügungsparks hat der Fotograf in all seinen Facetten, mit Übertreibungen und Absurditäten eingefangen. Das im 19. Jahrhundert entstandene Vergnügungszentrum Coney Island sollte ein Amerika der Zukunft, ein technisches Wunderland direkt am atlantischen Ozean sein. Es entstand ein neues Freizeitverhalten der Massen. Doch der Lack ist ab. Die einst mondäne Amüsiermeile hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem schmuddeligen, von Unkraut und Rost verhüllten Ort gewandelt. „Vor langer, langer Zeit, in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, war Coney Island einmal ein demokratisches Paradies, in dem Arm und Reich ihre Kleider abwarfen und sich ununterbrochen den Freuden des Fleisches, der Sinne und der Lust des Städters am Nervenkitzel hingaben.“ So beschreibt es die amerikanische Autorin Vicki Goldberg in der Einleitung zu Gransers Serie. Sie führt weiter aus: „Im Sommer war es der Himmel auf Erden und das ganze Jahr hindurch ein Utopia für Mittel- und Arbeiterklasse, ein mechanisches Gelobtes Land – ein sicherer, geselliger öffentlicher Raum.“ Die Probleme begannen in den 1960er-Jahren, als im Zuge eines Stadterneuerungsprogramms vieles abgerissen wurde. Als Granser seine fotografischen Untersuchungen startete, stand die Halbinsel gleichsam am Scheideweg, er richtete seine Kamera auf ein Coney Island im Übergang.

„Dieser Ort erscheint mir manchmal komisch, manchmal seltsam, manchmal tragisch und manchmal melancholisch, genau wie das Leben.“

Mit seinem ruhigen Blick deckt Granser das Außergewöhnliche auf, das im Prosaischen verborgen liegt. Eigentümliche Ausbrüche von Farbigkeit, unerwartete Geometrien, merkwürdige Ereignisse, die hinter jeder Ecke zu lauern scheinen, charakterisieren seine Arbeit – eine Mischung aus reizendem Lächeln und Leere, trockenem Humor und Melancholie: das, was er den „wunderbaren morbiden Charme“ der Halbinsel nennt. Gransers Fotografien zeigen nicht nur die nach Zerstreuung suchenden Großstädter in ihrer artifiziellen Umwelt, sondern sind auch ein Porträt des American Way of Life. In den ruhigen, aufmerksam beobachteten Farbaufnahmen spiegeln sich die Träume der kleinen Leute und die Utopien der Vergangenheit wider. In dem melancholischen Freizeit-Eldorado werden sie aber zu leeren Illusionen.

Auf fünf Reisen nach New York zwischen 2000 und 2005 hielt Granser Coney Island in über 2400 Bildern fest. Die Auszeichnung mit dem Leica Oskar Barnack Award war ein guter Auftakt, vier Jahre später veröffentlichte er seine Studien in einem Bildband.

(Text aktualisiert 2020)

Peter Granser

Der Österreicher wurde 1971 in Hannover geboren. Er eignete sich selbst die Grundzüge der Fotografie an und arbeitete für Zeitungen und Magazine, bevor er im Jahr 2000 erstmals ein freies Projekt begann. Er begründete mit seinem ersten Projekt „Sun City“ einen neuen Stil der Dokumentarfotografie und entwickelte seine Arbeiten seitdem erfolgreich weiter. Neben „Coney Island“ gehören eine Serie über Alzheimer und die „Sun City“-Serie zu seinen bekanntesten Werken. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter – neben dem LOBA 2004 – den Arles Discovery Award 2002 und 2011 den Talentkunstpreis der Helmut-Kraft-Stiftung. 2006 war er Stipendiat der Kunststiftung Baden-Württemberg. Sein Projekt „Heaven in Clouds“ wurde 2016 für den Shpilman International Prize for Excellence in Photography des Jerusalemer Israel Museums nominiert und 2018 für das Künstlerbuch-Stipendium der Stiftung Kunstfonds ausgewählt. Im Jahr 2019 erhielt Granser den Kubus. Sparda-Publikumspreis für seine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart, die einen Überblick über sein Werk der letzten zehn Jahre zeigte. Bisher hat Granser zehn Bücher veröffentlicht.

Inspiriert durch Aufenthalte in China und Japan, gründete Granser 2015 den Projektraum ITO, in dem er mit künstlerischen Positionen experimentiert, bei denen es um Themen wie Zeit, Leere, Natur und Bewusstsein geht. Er lebt in Stuttgart.

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Die Jury des Leica Oskar-Barnack Awards hat zudem zwei ehrenvolle Erwähnungen vergeben. Martin Kollar, Mitglied der Agentur VU’, wurde für seine fotografische Reise „Nothing Special“ durch verschiedene Länder Osteuropas ausgezeichnet. Prämiert wird zudem das Projekt „Hotel Marinum“ des Magnum-Fotografen Alex Majoli.