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Kiana Hayeri – Promises Written on the Ice, Left in the Sun

Kiana Hayeri – Promises Written on the Ice, Left in the Sun

Es sind Bilder aus dem Alltag, entstanden innerhalb der letzten vier Jahre. Doch in ihrer dokumentarischen Direktheit geben sie umso mehr Einblick in die gravierenden Veränderungen, die sich in Afghanistan seit dem Abzug westlicher Truppen im Sommer 2021 abzeichnen. Schnell wurde deutlich, wie die Taliban innerhalb von wenigen Tagen alle Errungenschaften in den Bereichen Meinungsfreiheit, Frauenrechte und Bildung zunichte machten und durch Angst und Unsicherheit ersetzten.

Schülerinnen in einem Klassenraum, ausgelassen tanzende Frauen in einem Wohnzimmer, eine Yogalehrerin bei ihrer Arbeit im Fernsehstudio, eine Offizierin vor einer Polizeiwache: Die Aufnahmen von afghanischen Frauen und Mädchen sind Momente aus dem alltäglichen Leben – aufgenommen vor ein paar Jahren oder noch im Februar dieses Jahres. Aber sie sind bereits Geschichte, denn mit der Rückkehr der Taliban an die Macht wurden Freiheiten und alltägliche Gewohnheiten für Frauen wieder eingeschränkt. Mit dramatischen, oft lebensgefährlichen Konsequenzen für die einzelnen Protagonistinnen: Die sich offen für Frauenrechte einsetzende Yogalehrerin konnte zunächst untertauchen und schließlich mit ihrer Familie aus dem Land fliehen, die Offizierin wurde entlassen, musste ebenfalls untertauchen und lebt heute in Deutschland. Der Schulunterricht und der Besuch von Universitäten ist für Mädchen und Frauen noch immer unmöglich. Am 21. März 2022 versprachen die Taliban zwar, alle Schulen in Afghanistan wieder zu öffnen und damit ihr siebenmonatiges De-facto-Verbot für Mädchen, Schulen zu besuchen, aufzuheben, doch zwei Tage später, als sich viele hoffnungsvoll auf den ersten neuen Schultag vorbereiteten, wurde die Entscheidung rückgängig gemacht, und die Taliban verkündeten, dass Schulen für Mädchen auf unbestimmte Zeit geschlossen blieben.

„Im vergangenen Sommer mussten wir alle ungläubig mitansehen, wie 20 Jahre Fortschritt in den Bereichen Meinungsfreiheit, Frauenrechte und Bildung innerhalb von 20 Tagen zunichte gemacht wurden, als das Land rasch in die Hände der Taliban fiel.“

Seit mehr als acht Jahren lebt die im Iran geborene und in Teheran und im kanadischen Toronto aufgewachsene Fotografin in Afghanistan und stellt immer wieder insbesondere die Lebenssituation von Frauen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, derselben Frauen, die kurz nach dem Einmarsch der Amerikaner in Afghanistan in den Mittelpunkt der Kriegsanstrengungen zur Befreiung des Landes gestellt wurden. Heute haben viele dieser Frauen das Gefühl, dass sie im Stich gelassen und zurückgelassen wurden. „Ich habe zwar über die Frontlinien und die dramatischen Ereignisse des Krieges berichtet, aber ich habe auch versucht, eine andere, alternative Darstellung von Amerikas längstem Krieg zu geben“, so die Fotografin.

„Afghanistan ist immer noch ein Land mit offenen Wunden, die nur schwer heilen.“

In ihrer ergreifenden Serie berichtet Hayeri auch von Frauen, für die der Mord an ihren Ehemännern der einzige Ausweg aus der häuslichen Gewalt war und die nun, obwohl sie im Gefängnis sitzen, Frieden gefunden haben. Geschichten von Mädchen aus den entlegensten Regionen, die bei Regen und Sonnenschein stundenlang laufen, um zur Schule zu gehen. Geschichten von Müttern, die den Verlust ihrer Töchter im Teenageralter betrauern, die brutal ermordet wurden, als sie ihre Schule im Westen Kabuls verließen. Oder die Geschichte einer Frau, deren vier Söhne unterschiedliche Lebenswege einschlugen, als sie sich den gegnerischen Seiten des Konflikts anschlossen: „Sie trägt eine offene Wunde am Hals, von der die Ärzte glauben, dass sie durch den Kummer verursacht wurde“, erläutert die Fotografin. Für Hayeri ist Afghanistan „ein Ort der Extreme, an dem das Beste und das Schlimmste der Menschheit Seite an Seite leben. Furcht und Mut, Verzweiflung und Hoffnung, Leben und Tod existieren nebeneinander“.

Kiana Hayeri

Kiana Hayeri geboren 1988, wuchs in Teheran, Iran, auf und wanderte als Teenager nach Toronto, Kanada, aus. Im Jahr 2021 erhielt sie die Robert Capa Gold Medal für ihre Fotoserie „Where Prison Is a Kind of Freedom“, die das Leben afghanischer Frauen im Gefängnis von Herat dokumentiert. Im Jahr 2020 erhielt sie den Tim Hetherington Visionary Award und wurde zum sechsten Empfänger des James Foley Award for Conflict Reporting ernannt. Hayeri ist Senior TED Fellow und arbeitet regelmäßig für die „New York Times“ und „National Geographic“. Sie lebt in Kabul, Afghanistan.

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Porträt: © Aaron Vincent Elkaim