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Stormi Greener – Leben bis 100: Meilenstein oder Mühlstein, 1984

Stormi Greener – Leben bis 100: Meilenstein oder Mühlstein, 1984

Die prämierte Serie hat nur eine Protagonistin: die 106-jährige Hattie Vaughn. Sie wurde in ihrem Alltag in einem Altenheim von der damals 37-jährigen Bildjournalistin in sensibler Weise fotografisch begleitet. Mit der Schwarzweißserie überzeugte Stormi Greener die Jury des Leica Oskar Barnack Awards eindrücklich und wurde 1984 zur fünften Preisträgerin gekürt.

Tägliche Routine: Jeden Morgen kreuzt die Greisin den aktuellen Tag auf ihrem Wandkalender durch, der unübersehbar in ihrem kleinen Zimmer im Altenheim in Fergus Falls, Minnesota, hängt. Der Kalender ist das Geschenk eines örtlichen Bestattungsunternehmens. Und in der Tat wünscht sich die alte Frau nichts sehnlicher als einen friedlichen erlösenden Tod. Ihr Lebensradius ist nach einem langen Leben auf wenige Quadratmeter beschränkt, die täglichen Aufgaben sind übersichtlich, nur wenige Ablenkungen durchbrechen die sich scheinbar unendlich dehnende Zeit. Hattie Vaughn hat mit ihren fast blinden Augen kaum noch einen Blick für die Welt draußen, der sie schon lange nicht mehr angehört.

„Es traf mich sehr persönlich. Ich sah meine eigenen alternden Eltern. Ich habe mich selbst gesehen. Mit der Statistik über das längere Leben entschied ich mich während dieser Geschichte, nicht so lange leben zu wollen, wie es diese Menschen in ihrer Verfassung taten.“

Stormi Greener hat in ihrer Bildserie den Tagesablauf sowie die kleinen Gewohnheiten von Vaughn festgehalten: wie die einsame alte Frau ihr kleines Zimmer aufräumt, die wenigen Habseligkeiten aus ihrem langen Leben ordnend betrachtet oder mit Hilfe von Lupe und Brille in der Bibel liest. Die Reportage ist ein intimer Einblick, der auch die kostbaren Momente mitmenschlicher Nähe und Sorge zeigt, etwa wenn eine Pflegerin des Heims Vaughn manikürt, pedikürt oder ihr die Kinnhaare zupft. Ein seltener Höhepunkt ist der Besuch von Bekannten, die gelegentlich ihren kleinen Hund mitbringen, den die Greisin glücklich umarmt. Am Ende des Tages sitzt Vaughn dann wieder allein auf ihrem Stuhl und wartet darauf, von einer Pflegerin ins Bett gebracht zu werden. So geht ein weiterer Tag zu Ende, der sich genauso still und ereignislos an den vorherigen reiht.

Die Geschichte über Hattie Vaughn erschien erstmals am 26. Juni 1983 in der sonntäglichen Familienbeilage der „Star Tribune“, für deren Verlag Greener bereits seit sechs Jahren als Fotografin tätig war und dort noch heute veröffentlicht. Bereits zwei Jahre zuvor hatte sie die Idee, das Leben der ältesten Bewohner von Minnesota zu dokumentieren. Aus diesem Einfall entwickelte sich dann ein fünfmonatiges Projekt, das Greener gemeinsam mit dem Journalisten Mike Kaszuba umsetzte. Dabei war es zunächst gar nicht so einfach, die über Hundertjährigen ausfindig zu machen, denn es gab keinerlei Stammbücher der Bewohner von Minnesota, die vor 1883 geboren waren. Mit aufwendiger Recherche in den Altenheimen der 87 Gemeinden von Minnesota oder den offiziellen Geburtstagslisten der Gouverneure gelang es schließlich doch, mehr als 100 über Hundertjährige ausfindig zu machen. Letztlich waren es dann 14 von ihnen, die interviewt und in ihrem Alltag vorgestellt wurden.

„Über 100 Jahre alt zu werden ist etwas völlig anderes als das Altern. Es war schwer, die Tatsache zu akzeptieren, dass diese Menschen sich nicht mögen, wie sie sind.“

In ihrer Dokumentation musste auch die Fotografin ihr bisheriges Bild vom Alter revidieren. Das Wortspiel des Titels „Meilenstein oder Mühlstein“ spiegelt die Ambivalenz der Situation, in die Greener mit ihren Fotografien einen präzisen, empathischen Blick warf. Nur wenige der Alten waren glücklich oder zufrieden mit dem Leben, das sie führten. Und doch: „Wir haben viele Menschen gefunden, die alles akzeptierten, was das Leben in diesem Alter bedeutet, und die noch den Blick auf den nächsten Tag richten können. Das ist die Leistung, die wir am meisten anerkennen sollten. Es gibt viel zu bewundern an Menschen, die es zu ihrem zweiten Jahrhundert gebracht haben“, so die Einschätzung der beiden Journalisten. Den größten Anteil mit 22 Fotografien auf neun Seiten hatte in der „Star Tribune“ die Geschichte von Hattie Vaughn. Die Fotografin war ihr eine Vertraute geworden, teilte in den Monaten immer wieder den Alltag mit ihr und so entstand diese sensible Serie, mit der Greener nicht nur in der „Daily Life“-Kategorie des World-Press-Photo-Wettbewerbs ausgezeichnet wurde, sondern eben auch perfekt die Kriterien des Leica Oskar Barnack Awards erfüllte, „mit scharfer Beobachtungsgabe und auf die anschaulichste Weise das Humanitäre und die Beziehungen des Menschen zu seiner Umwelt“ zum Ausdruck zu bringen.

(Text verfasst 2020)

„Ich wollte den Menschen das Gefühl geben, dass sie lesen und sehen, wie ich mich beim Erarbeiten der Geschichte fühlte. Offensichtlich gelang es.“

Stormi Greener

Stormi Greener wurde 1946 geboren; nach dem Besuch der Boise State University begann ihre Karriere als Fotojournalistin 1975 beim „Idaho Statesman“. 1977 ging sie zur „Star Tribune“ in Minneapolis, für die sie seither tätig ist. Ihr Schwerpunkt liegt auf sozialen Themen, die sie nicht nur in den USA, sondern auch auf vielen Auslandsreisen dokumentierte. Zahlreiche nationale und internationale Auszeichnungen, darunter mehrmals der World Press Photo Award und der Robert F. Kennedy Photojournalism Award.  Zweimal war sie Finalistin des Pulitzer-Preises. Greener lebt in Mahtomedi, Minnesota.

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