010203040506070809010011012
Mary Gelman – Svetlana, Newcomer 2018

Mary Gelman – Svetlana, Newcomer 2018

Etwa 150 Kilometer östlich von St. Petersburg liegt Svetlana, eine Einrichtung der anthroposophischen Camphill-Bewegung. Dort leben und arbeiten geistig oder körperlich beeinträchtigte Menschen, selbstständig und vor allem fern von Vorurteilen. Zwei Jahre lang fotografierte Mary Gelman ihren Alltag, stimmungsvoll und poetisch. Mit der Serie wurde sie der LOBA Newcomer 2018.

Erst Ende der 1980er-Jahre hat die Bevölkerung in Russland bemerkt, dass es in ihrem Land Menschen mit Beeinträchtigungen gibt. Zur Zeit der Sowjetunion gab es eine sture ideologische Regel: Im Kommunismus existieren keine Behinderten. Also sollte sich ihre Zahl kontinuierlich verringern. Entsprechend versuchte man die Geburt behinderter Kinder zu verhindern; Eltern wurden gedrängt, ihre behinderten Kinder in Heimen abzugeben, sogenannten Internaten.

„Ich wollte die menschlichen Grenzen und Möglichkeiten erforschen. Ich habe bemerkt, dass die Menschen zu viel mehr fähig sind, wenn sie frei sind von Stigmatisierung, Vorurteilen und Klischees. Jeder Mensch hat das Recht auf ein glückliches Leben, ohne Diskriminierungen.“

Mit dem Zerfall des Systems, Anfang der 90er-Jahre, etablierte sich eine neue demokratische Verfassung, die garantiert, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Das hat viele Eltern in ihrem Ringen um die Zukunft der Kinder ermutigt. Nach und nach wurden heilpädagogische Zentren gegründet, Svetlana ist eines davon. In der Einrichtung der anthroposophischen Camphill-Bewegung leben behinderte Erwachsene nahezu selbstständig. Unterstützt von Tutoren und freiwilligen Helfern bauen sie Gemüse an und produzieren Milchprodukte, die sie in den benachbarten Dörfern verkaufen. Die sich selbst versorgende Gemeinschaft ist eine der wenigen Einrichtungen in Russland, die erwachsenen Menschen mit körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen eine berufliche Zukunft bietet.

„Das Allerwichtigste beim Fotografieren ist, sich Zeit zu lassen. Ich recherchiere und beobachte sehr lange, bevor ich eine Aufnahme mache.“

Inspiriert von ihrem ersten Besuch, arbeitete Gelman zwei Jahre an dem Projekt über die heilpädagogische Initiative. „Es hat mich selbst tief beeindruckt, dass es mich immer wieder an diesen Ort zurückzog.“ Entstanden ist eine fotografische Annäherung auf zwischenmenschlicher Ebene: zurückhaltende Porträts und vorsichtige Einblicke, stimmungsvolle Situationsaufnahmen aus einem zunächst fremden Alltag, der mit seinen Ritualen eine faszinierende Normalität zelebriert. Die sensiblen Aufnahmen zeugen von einer genauen Beobachtungsgabe und einem immersiven soziologischen Impuls. „Ich wollte nicht die Andersartigkeit der Leute zeigen oder ihre Behinderung. Ich wollte, dass der Betrachter etwas Ursprüngliches fühlt – und zuallererst die Person auf dem Foto wahrnimmt“, erläutert Gelman. Kategorien wie normal oder behindert verschwinden in ihren Aufnahmen. Umso deutlicher erzählen sie davon, wie frei und fähig jeder sein kann, wenn es keine Stigmatisierung oder Diskriminierung gibt.

(Text aktualisiert 2020)

Mary Gelman

Mary Gelman wurde 1994 in Pensa, Russland, geboren. Sie absolvierte ein Soziologiestudium, bevor sie sich Gender-Studien und – an der Hochschule DocDocDoc in St. Petersburg – der Fotografie zuwandte. Sie arbeitet als Fotojournalistin und Lehrerin. In ihren Projekten kombiniert sie einen starken persönlichen Ansatz mit dokumentarischen und konzeptionellen Praktiken. Gelman konzentriert sich auf die Untersuchung von Themen wie Geschlecht und Körper, Grenze und Identität, Diskriminierung und die menschliche Beziehung zur Umwelt. Zu den Auftraggebern der Dokumentarfotografin gehören inzwischen „The Washington Post“, „The Village“ und „European Photography Magazine“. Sie hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, ihre Arbeiten werden weltweit ausgestellt. Gelman ist Mitglied der Fotoagentur VII und lebt in St. Petersburg.

Zur Website

Porträt: © Vika Bykovskaya