010203040506070809010011012013014015016017018019020
Emil Gataullin – Mezen: By Sky’s Edge

Emil Gataullin – Mezen: By Sky’s Edge

Sie leben am Rande des Himmels und in der Vergangenheit: Emil Gataullin ging für seine Serie in die russische Provinz und beobachtete den Alltag der Bewohner an den Ufern der Mesen. Seit Jahrhunderten scheint sich dort nichts verändert zu haben – eine Reise in verschwunden geglaubte Zeiten.

Irgendwo im russischen Norden, die Republik Komi und die Region Archangelsk durchquerend, fließt die Mesen. Ein fast 1000 Kilometer langer Fluss, der im Oktober gefriert und im April wieder auftaut, der im Weißen Meer mündet und an dessen Ufern sich Orte aneinanderreihen wie die Erinnerungen an alte Tage. In den Mesen-Dörfern scheint die Zeit stillzustehen, hier entfaltet sich eine Kulisse aus jahrhundertealten Hütten, verlassenen Holzkirchen und archaischen Kreuzen, hier reden die Bewohner mehr über das Früher als das Jetzt, hier ist die Vergangenheit realer als die Gegenwart. Emil Gataullin sagt: „Ich suche in diesen Orten nach einer Verbindung zu meiner eigenen Biografie, zu meinen Kindheitserinnerungen, zum Haus meiner Großmutter, in das ich zum ersten Mal eine Kamera mitnahm.“

„Zunächst einmal interessiere ich mich für das Leben der einfachen Menschen, ihre Beziehung zueinander und den Ort, an dem sie leben. Ich beschäftige mich nicht mit dem Studium sozialer Phänomene, sondern beobachte und halte meine Beobachtungen fest. Für mich ist der Prozess des Fotografierens eine Suche. Eine Suche nach Momenten, die den Sinn und die Schönheit des Alltagslebens zeigen.“

Seit drei Jahren bereist der Fotograf die Gegend entlang des Stroms, sechsmal war er bisher dort, ungefähr 30 Dörfer hat er besucht. Ende der 199er-Jahre hörte er zum ersten Mal von diesem Landstrich, damals studierte er am Moskauer Kunstinstitut, entdeckte die Bilder des russischen Malers Viktor Popkov und dessen Zyklus „Die Witwen der Mesen“: Boote am Steilufer, große Blockhütten, alte Frauen in roten Tüchern. Diese Gemälde haben Gataullins Interesse für das Leben in der russischen Provinz, am Rande der Gesellschaft, geweckt. „Viele Jahre lang hat mir dieser Winkel der Welt zugerufen“, erzählt er, „aber er schien immer zu weit weg zu sein. Im Sommer 2017 schließlich fand ich mich dort wieder – und seitdem hat die Mesen mich nicht mehr losgelassen.“

„Jedes Mal, wenn ich an die Mesen fuhr, hoffte ich, Antworten auf die Fragen zu finden, warum ich dorthin fuhr, was ich finden wollte, was ich zeigen wollte, warum diese Orte und Menschen mich so anzogen. Bis jetzt liegen noch keine endgültigen Antworten auf die Fragen vor.“

Ein Spielplatz mit einer Weltraumrakete aus Holz liegt einsam im Morgennebel, ein Mädchen sitzt vor einer verrotteten Eingangstür, ein kaputtes Auto der Marke Saporoshez verbringt seine letzten Tage unter einer Schneedecke – Gataullins Fotografien erzählen über das Vergehen, Verschwinden und Verblassen des Lebens in den Dörfern. Über Menschen, die Schwierigkeiten haben, sich an die moderne Realität anzupassen. Viele Einheimische wurden nach dem Zerfall der Sowjetunion arbeitslos, viele verließen die Siedlungen. Diejenigen, die blieben, sorgen heute – wie vor Jahrhunderten ihre Vorfahren ­– für sich selbst, sie backen, jagen und fischen. Und träumen vom früheren Dasein: „Sie fühlen sich verlassen und leben in einem Spannungsfeld zwischen der für immer verlorenen Vergangenheit und einer ungewissen Zukunft“, beschreibt der Fotograf ihre Situation. Weit entfernt von großen Städten und vom kulturellen Leben, schimmert für sie die Gegenwart wie ein unwirklicher Stern – irgendwo draußen, im Fernsehen oder auf Magazinseiten. Die Mesen-Dörfer am „Rande des Himmels“ – so der Titel der Serie auf Deutsch – und ihre Bewohner haben sich ihre Identität und traditionelle Lebensweise bewahrt, Gataullin hält sie in seiner Serie in farbiger Pracht, malerischer Anmutung und Schönheit fest. Und doch ist auf seinen Bildern auch immer der Abschied sichtbar, das Welken und ein Verlust. Er sagt: „Ich neige zur Melancholie, und ich mag es, die Resonanz meines inneren Zustands mit der Traurigkeit der umgebenden Realität zu spüren.“

Emil Gataullin

Emil Gataullin wurde 1972 in Russland geboren und lebt in Moskau. Vor seinem Studium der Fotografie schloss er ein Kunststudium ab. Seine fotografischen Arbeiten erscheinen in namhaften Magazinen und Online-Medien wie „Geo“, „The New York Times“ oder „Ogonek“. 15 Jahre lang widmete er sich der Schwarzweiß-Fotografie, erst seit 2016 fotografiert er in Farbe. Im selben Jahr erschien auch sein Buch „Towards the Horizon“, das poetische Aufnahmen aus russischen Dörfern versammelt. Die Reisen an die Mesen wird er in Zukunft weiterverfolgen, genauso wie sein Langzeitprojekt über Kolyma, wo sich von den 1930er- bis 1950er-Jahren die brutalsten Lager des Gulags befanden.

Porträt: © Renat Gataullin