George Voronov – We Became Everything
Fühlen statt Sehen: Die Serie des irischen Fotografen soll andere dazu ermutigen, die spirituelle Welt seiner Protagonisten wahrzunehmen und zu erleben. Eine Reise in den geheimnisvollen Raum zwischen Sein und Unwirklichkeit.
Auf einem Bild steht eine Leiter, die durch eine Dachluke in den Himmel führt. Der Betrachter schaut von unten nach oben, vom Boden hinauf ins strahlende Blau, aus der Realität in die Unendlichkeit. Das Bild beschreibt vermutlich am besten die Arbeit des irischen Fotografen George Voronov, der über sein Projekt sagt: „Mich faszinierte der Glaube, dass es eine spirituelle Welt gibt, die parallel zu der materiellen Welt existiert, die wir alle um uns herum sehen können, ein Glaube, den alle Menschen, die ich fotografiert habe, teilten.“
„Das Entscheidende an diesem Projekt ist die Tatsache, dass alle, die ich fotografiert habe, eine prinzipiell unterschiedliche Spiritualität und Weltanschauung haben. Sie eint jedoch ein gemeinsamer Drang nach Erleuchtung.“
„We Became Everything“ ist eine Serie über Emotionen. Über die Erkenntnis, die Menschen erlangen, wenn sie sich einer spirituellen Handlung hingeben; wenn sie das ihnen bekannte, irdische Dasein verlassen und in ein neues, transzendentales eintauchen. Voronovs analog fotografierten Bilder zeigen Personen, die sich gemeinsam auf diesen Weg gemacht haben, die ihr Streben nach religiösen Erlebnissen eint. Der Fotograf hat viel Zeit mit ihnen verbracht, intime Gespräche geführt, persönliche Beziehungen aufgebaut. Bevor er sie fotografierte, wollte er ihnen so nah wie möglich sein, verletzlich wie sie. Es ging ihm nicht um die bloße Abbildung oder traditionelle Dokumentation, er sagt: „Statt einfach verschiedene religiöse Exerzitien, Rituale und die Menschen, die daran teilnehmen, darzustellen, wollte ich das Medium der Fotografie nutzen, um dem Betrachter einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich eine religiöse Erfahrung tatsächlich anfühlt.“
Dafür reiste der Fotograf etwa drei Jahre lang durch Irland. Er recherchierte und versuchte, in dem katholisch geprägten Land Zugang zu anderen religiösen und spirituellen Gruppen zu finden. Die Idee für sein Projekt entstand, nachdem er in Nicaragua selbst einer spirituellen Erfahrung beiwohnte. In einer Temazcal-Zeremonie saß er mehrere Stunden in einer Schwitzhütte, die er entspannt und gereinigt verließ. „Ich war verblüfft, wie überwältigend und transformativ diese Erfahrung war“, erzählt er, „und sie brachte mich dazu, über die Kraft von Ritualen und spirituellen Erfahrungen nachzudenken.“
Mit halb geschlossenen Lidern liegt ein Mann auf der Wiese, eine Frau blickt hinter Blumen in die Wolken, ein Paar lehnt sich zärtlich aneinander – auf seinen Fotografien hält Voronov jene Augenblicke fest, die vergänglich sind und doch ewig erscheinen. Momente veränderter Bewusstseinszustände, der Zeitlosigkeit und der Magie. Die Bilder, die er anstrebte, erklärt er, sollten geheimnisvoll sein, sinnlich und reich an Farben. Sie sollten einen Einblick bieten in ein rätselhaftes, mystisches Sein.
„Ich habe immer gesagt, dass dieses Projekt so gut wie nichts mit Religion oder Theologie zu tun hat, aber alles mit dem weiten Begriff der Spiritualität. Es geht um Menschen, die nach Antworten suchen und versuchen, sie durch ihr Streben nach erhabenen Erfahrungen zu finden.“
Die Arbeit an diesem Projekt habe ihn verändert, erzählt Voronov. Er habe erkannt, dass ein Bild die Sicht auf die Welt grundlegend ändern und einen banalen Gegenstand fantastisch erscheinen lassen kann. Mit seiner Serie möchte er weitergeben, was er in der Praxis der Fotografie gelernt hat: Die Idee, dass mitunter das Finden kleiner Momente der Schönheit ein Schlüssel zu einem besseren, freudigeren Leben ist.
George Voronov
George Voronov, 1993 in Russland geboren, zog im Alter von sechs Jahren nach Irland und lebt heute in Dublin. Er ist Kunst- und Dokumentarfotograf und Mitbegründer von „Junior“, einer Fotozeitschrift für zeitgenössische irische Dokumentarfotografie. Seine Projekte konzentrieren sich auf die Erforschung der Bereiche Kultur und Rituale. Demnächst plant er ein Projekt über sein Herkunftsland, über seine Familie, seine Beziehung zu Russland und die Idee von „Heimat“.
Porträt: © Ellius Grace