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Namhun Sung – Red Island

Namhun Sung – Red Island

Lange wurden die Massaker verschwiegen, die am 3. April 1948 auf der südkoreanischen Insel Jeju ihren Anfang nahmen. Tausende Bewohner starben bei Aufständen gegen die lokale, von der US-Armee eingesetzte Regierung. Durch den Gebrauch beschädigter Großpolaroids hat der koreanische Fotograf in seiner Serie eine ungewöhnliche Form und Bildsprache für die grausame Geschichte der Insel gefunden.

Landschaften mit Bäumen und Wasserfällen, Porträts, aber auch Gedenkstätten: Die stimmungsvolle Schwarzweißserie von Namhun Sung setzt sich aus verschiedenen Motiven zusammen. Durchgängig ist jedoch der merkwürdig beschädigte Eindruck der Abzüge. Die Ränder scheinen sich aufzulösen, Flecken und Unschärfen lassen die Motive wie gerettete, doch deutlich gealterte Objekte nach einer Katastrophe aussehen. Dabei handelt es sich um aktuelle Bilder, die allerdings auf Vorfälle verweisen, die sich vor über 70 Jahren auf der südkoreanischen Insel Jeju zugetragen haben.

„Die Insel Jeju ist ein Ort des Zusammenlebens, der Überschneidung gewaltiger Mythen und des tragischen Lebens.“

Nach den Erfahrungen der jahrzehntelangen japanischen Kolonialherrschaft entstand nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Insulanern eine große Unzufriedenheit mit der von der US-Armee eingesetzten Regierung. Der bewaffnete Aufstand der Inselbewohner gegen die brutale Repression wurde im März 1948 mit großer Gewalt durch koreanische Truppen mithilfe der amerikanischen Besatzungsarmee niedergeschlagen. In den folgenden sieben Jahren und sieben Monaten wurden etwa 30.000 Menschen getötet, die Strategie der verbrannten Erde löschte ganze Dörfer aus. Die an Genozid erinnernden Massaker wurden in der Folgezeit verschwiegen und verdrängt, eine Erinnerung an die Verbrechen war verboten. Erst vor wenigen Jahrzehnten wurde es möglich, an die Geschehnisse zu erinnern, eine langsame Aufarbeitung nahm ihren Anfang. Noch immer leiden die Hinterbliebenen und Opfer unter der schmerzenden Erinnerung. Doch bereits vor der offiziellen Anerkennung gab es auf der Insel Formen des Trostes und Schmerzlinderung.

„Diese Performance, im fotografischen Ritual Vergangenheit und Gegenwart in der Dokumentation zu verweben, ist ähnlich dem schamanischen Ritual der Seelenberuhigung.“

Sung fand bei seinen Recherchen auf Jeju heraus, dass Schamanen heimlich religiöse Opferrituale ausführten. In Anlehnung an diese Praxis der sogenannten Gut-Rituale schuf der Fotograf nun eine eigene Form einer visuellen Dokumentation. Er fotografierte nicht nur die Opfer und ihre Angehörigen sowie die Schauplätze der Massaker, sondern der von ihm verwendete Polaroidfilm selbst wurde auf nicht kontrollierbare Weise beschädigt: „Mit einem großen 4x5-Polaroidfilm konnte ich Schwarzweißfilm und Papierbild gleichzeitig herstellen. Obwohl es unter den wechselnden Klimabedingungen schwierig war, wurde das Polaroidbild während der zwei- bis dreiminütigen Entwicklungszeit durch Stöße gegen die Bäume und Felsen an den Orten, in die der Schmerz und die Erinnerung eingebrannt sind, beschädigt. Das unvorhersehbare Bildergebnis wurde durch Scannen vervollständigt“, erläutert Sung sein Vorgehen. Fotografie und Erinnerung finden in seiner Serie zu einer beeindruckenden Symbiose zusammen: „Der Zweck liegt darin, die unruhige Geschichte unserer Nation durch die Unsicherheit des Polaroidbilds einzufangen und gleichzeitig den Schmerz der Vergangenheit zu teilen und zu heilen“, so der Fotograf.

Heute ist die Insel längst ein beliebtes Tourismusziel, viele Orte lassen ihre dramatische Geschichte nicht mehr erkennen. Mit seiner Arbeit gibt der Fotograf den Menschen und der Geschichte eine Form der Erinnerung zurück: „Ich hoffe, dass wir uns durch die Fotografie an die vergessene Schönheit der ursprünglichen Insel Jeju erinnern, die zu heilenden Schmerzen nachempfinden und auf unsere Geschichte zurückblicken können.“

„Dieser Prozess ist auch eine Frage der Fotografie hinsichtlich der Fehlbarkeit der Geschichte, die niemals mit einem einzigen Foto vollständig reproduziert werden kann, und auf die Anrufung der Erinnerung, die umso stärker aufrechterhalten werden muss, je mehr sie verblasst.“

Namhun Sung

Namhun Sung, 1963 in Jinan, Jeollabuk-do, Korea, geboren, studierte nach Betriebswirtschaft an der Universität Jeonju von 1990 bis 1993 Dokumentarfotografie an der Icart Photo École de Photographie de Paris und begann 1994 für die französische Agentur Rapho zu arbeiten. Seit 2012 ist er Mitglied der Fotogruppe Dream Flower Factory. Zahlreiche internationale Ausstellungen und Auszeichnungen. Sein fotografisches Projekt auf der Insel Jeju wird Namhun Sung fortsetzen und erweitern; sein Wunsch: „Mit dem Traum einer vereinten Nation hoffe ich, eines Tages eine ganze Nation fotografieren zu können.“

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Porträt: © Namhun Sung