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Enri Canaj – Say Goodbye Before You Leave

Enri Canaj – Say Goodbye Before You Leave

Sie leben in Camps ohne Privatsphäre, ohne medizinische Versorgung und ohne fließendes Wasser. Sie beten unter Olivenbäumen, baden in der Ägäis und betten ihre Kinder notdürftig auf Pappen und Steine. Mehrere Jahre lang hat der Magnum-Fotograf Enri Canaj Migranten auf ihrem beschwerlichen Weg ins Ungewisse begleitet und ihr entbehrungsreiches Leben im Ausnahmezustand dokumentiert.

Eigentlich ist es seine eigene Geschichte. Eine Geschichte, die von Flucht erzählt und von Heimatlosigkeit, von Orten des Übergangs und Wegen ins Unbekannte. Als Enri Canaj mit seiner Familie auswandert, ist er gerade einmal elf Jahre alt – und migriert von Albanien nach Griechenland. Diese Erfahrungen, die sich in ihn eingeschrieben haben, sind zu seinem Lebensthema geworden. Und unweigerlich werden sie auch in Canajs Reportage „Say Goodbye Before You Leave“ sichtbar. Er selbst vergleicht seine frühen Erinnerungen mit einem einst zugeschlagenen Buch: „Als ich 2005 anfing, zu fotografieren und mit der Berichterstattung über Migration begann, fiel dieses Buch aus dem Regal, in dem es die ganze Zeit gestanden hatte, und wurde wieder aufgeschlagen. Während ich zum Zeugen der gegenwärtigen Erfahrungen anderer Migranten wurde, begab ich in meine eigene Vergangenheit.“

„Ein perfektes Foto ist für mich eines, das etwas in Geist und Seele auslöst. Eines, das den Prozess des Denkens und Fühlens beeinflusst. Je länger dieser Prozess, desto mehr Perfektion im Bild.“

Für „Say Goodbye Before You Leave“ fotografiert er in Niger, Griechenland und Italien. Dort begleitet er Menschen auf ihren ungewissen Wegen, dokumentiert ihren improvisierten Alltag, ihre katastrophalen Lebensumstände, ihre existenzielle Not, aber auch ihren Stolz. Vielen von ihnen folgt er über einen längeren Zeitraum, fotografiert sie auf unterschiedlichen Etappen ihrer Reise, von der Ankunft in einem fremden Land und den ersten Monaten oder gar Jahren dort bis zum Beginn eines neuen Lebens. Als Europas größtes Flüchtlingslager Moria – ein sogenannter Hotspot der EU – auf der griechischen Insel Lesbos abbrennt, ist Canaj vor Ort, und auch dann, als viele der dadurch Obdachlosen von dort aufs Festland ziehen. „Ich weiß, wie es sich anfühlt, gefangen zu sein, jahrelang ohne Papiere zu sein, in Gefahr zu leben. All diese Gefühle kamen wieder hoch, als ich die Reisen und Geschichten der Menschen fotografierte.“ Dass er mit denen, die er fotografiert, eine gemeinsame, wenn auch zeitlich verschobene Erfahrung teilt, hilft ihm, durch Gespräche jene besondere Nähe herzustellen, die auf seinen Aufnahmen zu sehen ist. Das Medium Fotografie wiederum hilft Canaj dabei, „all jene Erlebnisse, die auf mir lasteten, zu lösen“.

„Durch die Fotografie habe ich gelernt, wie wichtig es ist, eine eigene Vision zu haben, und seinen eigenen Weg dorthin zu gehen. Mit der Kamera als engstem Begleiter, als ständigem Antrieb.“

Die bewegenden Fotografien, die Canaj in nahezu filmisch anmutendem Schwarzweiß komponiert, sind ungeschönte Zeugnisse eines entbehrungsreichen Transitlebens. Zum einen. Zum anderen erzählen sie aber auch von dem Mut, dem Stolz und der Würde der Menschen. Und von der Umwelt als ihrer wichtigsten Überlebensressource: Da wird das Baden im Salzwasser der Ägäis zur täglichen Praxis, um ein Mindestmaß an Hygiene zu gewährleisten, da werden Babykrippen liebevoll aus Holzstöcken zusammengebaut, wird im Meer gefischt, um die Familien zu ernähren, werden mitten im Nirgendwo provisorische Häuser, Kirchen und Moscheen gebaut. Zum Schutz für Leib, Geist und Seele. „Es ist ein wichtiger Teil meiner Arbeit, die Emotionen und Geschichten der Menschen zu teilen, nicht nur die harten Umstände und das Elend der unmenschlichen Bedingungen“, bemerkt Canaj. Es ist diese zutiefst humanistische Haltung, die sich in seinen Bildern widerspiegelt. Die mit großem Respekt und ergreifender Ehrlichkeit von nichts weniger als den Menschen und ihren Geschichten erzählt und die Canajs Arbeit zugleich zu einer zutiefst persönlichen wie hochpolitischen macht.

Enri Canaj

Enri Canaj, 1980 in Tirana, Albanien, geboren, migrierte 1991 mit seiner Familie nach Griechenland. In Athen studierte er Fotografie, nahm 2007 an einem Migrationsprojekt des British Council teil und besuchte einen einjährigen Workshop beim Magnum-Fotografen Nikos Economopoulos. Seit 2008 arbeitet er als freiberuflicher Fotograf für bedeutende nationale und internationale Magazine. Seine Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Seit 2019 ist Canaj Associate bei der Agentur Magnum Photos.

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