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Ingmar Björn – Nolting About the Days Ahead

Ingmar Björn Nolting – About the Days Ahead

Ab Mitte März 2020 breitet sich Corona in Deutschland aus. Kurz darauf unternimmt Ingmar Björn Nolting einen Roadtrip. 25 000 Kilometer reist er kreuz und quer durch die Republik und fängt bewegende Szenen aus einem Land im Ausnahmezustand ein. Es sind Aufnahmen, die wie verblassende Erinnerungen wirken, persönlich und ikonisch zugleich.

Da steht ein Bestatter mit einer Urne vor leeren Stuhlreihen, da protestieren zwei Fahnenschwenkende nahezu unbemerkt am Straßenrand, da gibt ein Organist ein Livestream-Konzert in einem Saal ohne Zuschauer, da kümmern sich Ärzte mit gebündelter Kraft um einen Schwerkranken: Es sind Aufnahmen, die das Leben und den Alltag in Deutschland im Ausnahmezustand zeigen. Sie entstehen ab dem Frühjahr 2020, gleich zu Beginn der Corona-Pandemie. Zu einem Zeitpunkt, als der Schrecken tief in die Glieder der Gesellschaft fährt, als nicht nur die Angst, an diesem unbekannten Virus zu erkranken, groß ist, sondern auch die Angst davor, aus diesem Science-Fiction-Alptraum nie mehr zu erwachen. Es ist eine Zeit, in der es weder eine Routine, noch eine Perspektive, noch einen Impfstoff gibt. Stattdessen legt sich ein lähmender Schrecken wie ein bleierner Nebel über das Land. Und von einem Tag auf den anderen steht das öffentliche Leben still.

„Immer wenn ich daran denke, krank zu werden, fühle ich mich zerbrechlich, und mein Herz beginnt, schnell zu schlagen. Das war schon immer so. Als sich Covid-19 Anfang 2020 rasant auf der ganzen Erde ausbreitete, wachte ich in einer Welt auf, die sich genauso zerbrechlich anfühlte“, erinnert sich Ingmar Björn Nolting. Seine Reaktion auf die Corona-Krise wirkt wie eine ganz persönliche Konfrontationstherapie: Nolting unternimmt – unter strengen Vorsichtsmaßnahmen – einen Roadtrip. Insgesamt 25 000 Kilometer fährt er kreuz und quer durch Deutschland und fotografiert. Er fotografiert Fremde und Vertraute, fotografiert Bundeswehrsoldaten, die zur Krisenbewältigung hinzugezogen wurden, dokumentiert sommerliche Szenen am überfüllten Ostseestrand und in die Armbeuge niesende Bundestagsabgeordnete. Doch er fotografiert auch Mitglieder aus dem Posaunenchor seines Vaters, befreundete Künstler bei Open-Air-Performances und die Zahnbehandlung seiner Tante.

„Die Fotografie gibt mir eine Daseinsberechtigung, eine Möglichkeit, in Kontakt zu treten, Begegnungen zu haben, die ohne die Fotografie nicht möglich gewesen wären.“

Meistens beschäftige er sich beim Fotografieren mit Geschichten außerhalb seines persönlichen Umfelds, sagt Nolting, doch „als die Krise dann plötzlich so nah war und uns alle betroffen hat, hatte ich das Bedürfnis, auch persönlich davon zu erzählen“. Seine melancholischen Aufnahmen bilden eine große Bandbreite der Krise ab. Sie berichten von Isolation und Lebensangst genauso wie von der Sehnsucht nach einer improvisierten Normalität. Durch eine leichte Überbelichtung verlieren die sorgsam komponierten Bilder an Kontrast und Sättigung. „Dadurch entsteht eine surreale, sterile Stimmung, die sich auf mein Gefühl bezieht, das ich zum Beginn der Krise hatte“, erläutert der Fotograf. Und obwohl allen Aufnahmen tatsächlich eine unleugbar surreale Atmosphäre innewohnt, gehen sie dem Betrachter nah und vermitteln ein nachhaltiges Unwohlsein. „Fotografie ist die Möglichkeit, mich über Worte hinweg auszudrücken“, gibt Nolting zu Protokoll. Das ist ihm mit dieser Serie auf äußerst kunstvolle Weise gelungen: zart und beunruhigend, eindringlich und schön.

Ingmar Björn Nolting

Ingmar Björn Nolting, Jahrgang 1995, studierte Fotografie in Dortmund. Schwerpunkt seiner Arbeit sind Essays, die sich mit sozialer, geografischer und geopolitischer Isolation auseinandersetzen. Er ist Stipendiat der Stiftung Kunstfonds und Gründungsmitglied des DOCKS Collective für humanistische Fotografie. Seine Arbeiten wurden vielfach ausgezeichnet. Publikationen u. a. im „Time Magazine“, in der „Zeit“, „GEO“, „The Guardian“, dem „Stern“, „Brand eins“, „SZ Familie“, der „NZZ“ und auf „Spiegel Online“. Nolting lebt und arbeitet in Leipzig.

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Porträt: © Cihan Cakmak