010203040506070809010011012
Leica Oskar Barnack Award 2007: Julio Bittencourt „In a Window of Prestes Maia 911 Building“

Julio Bittencourt – In a window of Prestes Maia 911 building, 2007

Ein Fenster zum Leben. Julio Bittencourt dokumentierte die Lebensverhältnisse in einem verfallenden Wohnblock in seiner Heimatstadt São Paulo als ausschnitthafte Einblicke in allzu beengte Nachbarschaften. Seine poetisch inszenierten Guckkästen erzählen von Armut und Leid, aber auch von der Würde des Lebens. Für die Serie „In a window of Prestes Maia 911 building“ erhielt er 2007 den Leica Oskar Barnack Award.

Julio Bittencourt gibt mit seiner Serie Obdachlosen ein Gesicht, die seit dem 3. November 2002 das Haus Nummer 911 der Prestes Maia Avenue im Herzen von São Paulo bewohnen. Nach seiner Besetzung durch eine Obdachlosenorganisation bietet es Platz für über 1200 Menschen. Bittencourt nähert sich den Einwohnern fotografisch, ohne in ihre unmittelbaren Lebensräume einzudringen. In einem strengen formalen Aufbau porträtiert er die Einwohner an jeweils einem der 364 Fenster des Gebäudes. An der Grenze zwischen beschütztem Innern und der feindlichen Außenwelt lassen sie erkennen, wie viel Leben und Geborgenheit die ärmlichen Wände bieten. Spuren des Verfalls wie von Ruß geschwärzte Wände und notdürftig geflickte Löcher in den Fenstern verstärken den Kontrast zwischen Innen- und Außenwelt.

„Ich wollte eine symbolische und physische Grenze schaffen durch das schrottreife Material überall. Und gleichzeitig die Würde der Menschen zeigen, denen es gelingt, im Zerfall zu überleben.“

Inspiriert zu der ungewöhnlichen Strecke wurde der Fotograf von seinen eigenen Kindheitserinnerungen: „Ich wuchs in einem dieser unzähligen Gebäude auf, die São Paulo zur Megacity formten. Hier kommunizieren die Menschen meistens durch die Fenster.“

Bittencourts Studien zeigen nur scheinbar die äußerliche Perspektive. Um so fotografieren zu können, musste er in die gegenüberliegenden Wohnungen. So fotografierte er ebenso sehr aus den Fenstern wie in die Fenster. „Die Menschen wussten, was geschieht. Ich habe sie in Szene gesetzt. Das darf in den Bildern sichtbar werden, auch wenn manche wie zufällig entstanden aussehen.“ Bevor Bittencourt mit der eigentlichen Arbeit begann, besuchte er über Wochen seine Protagonisten. Er lauschte ihren Problemen und Träumen, entwickelte anhand ihrer Geschichten seine Bildideen. Erst, als das Vertrauen zwischen Fotograf und Protagonisten gewachsen war, holte er seine Kamera dazu. Sich von Fenster zu Fenster fragmentarisch, respektvoll und dennoch schonungslos den Bewohnern zu nähern – ein Drahtseilakt für Bittencourt. „Mit dem 50-mm-Objektiv konnte ich den idealen Ausschnitt wählen, ohne die Bildränder zu verzerren.“ Durch einheitliche Perspektivwahl schuf er einen strikten formalen Rahmen, der die optimale Konzentration auf die Inhalte ermöglichte.

Das Gebäude wurde im Sommer 2007 geräumt, seit 2010 ist es allerdings erneut besetzt.

(Text aktualisiert 2020)

„Durch den LOBA wurden mehrere Türen geöffnet und es war definitiv der größte Impuls, den ich je von einer Auszeichnung erhalten habe, um meine Karriere voranzubringen.“

Julio Bittencourt

1980 in Brasilien geboren, wuchs Julio Bittencourt in São Paulo und New York auf. Der Autodidakt ist seit 2000 als Fotograf tätig, seit 2006 arbeitet er als freier Fotograf. Die preisgekrönte Serie „In a Window of Prestes Maia 911 Building“ erschien 2008 als Buch. Sein Werk wird weltweit ausgestellt und in renommierten Zeitungen und Magazinen publiziert.

Zur Website

Ehrenvolle Erwähnungen in dem traditionsreichen Wettbewerb aus dem Kulturprogramm der Leica Camera AG gingen 2007 an den spanischen Fotografen José Cendon für ein Reportageprojekt in psychiatrischen Krankenhäusern in Ostafrika und die norwegische Fotografin Margaret M. de Lange, die Kindheit und Jugend ihrer beiden Töchter in einem fotografischen Langzeitprojekt festgehalten hat.