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Emile Ducke – Kolyma – Along the Road of Bones

Emile Ducke – Kolyma – Along the Road of Bones

Kolyma hat sich als Schrecken in das Gedächtnis der russischen Bevölkerung eingeprägt. In dieser weit entfernten ostsibirischen Region haben Hunderttausende Gefangene eine Straße gebaut, in den Minen geschuftet und dabei ihr Leben verloren. Wie geht eine Gesellschaft heute mit der Erinnerung an die Vergangenheit um? Diese Frage stellte sich der Fotograf Emile Ducke, reiste entlang der 2000 Kilometer langen Route und fand die Spuren der Geschichte im Schnee und in den Gesichtern der Menschen.

„Маска скорби“, die Maske der Trauer, wacht über Magadan wie eine Hüterin der Erinnerung. Ein 15 Meter hohes Monument aus Beton mit vielen Gesichtern, aus denen jene Tränen zu fließen scheinen, die einst entlang des Stroms Kolyma vergossen wurden und die nun die Stadt in den Schleier ihrer Vergangenheit hüllen. Von Jakutsk nach Magadan haben von 1932 bis 1952 Hunderttausende Gefangene des stalinistischen Terrorregimes eine 2000 Kilometer lange Strecke gebaut, die als „Straße der Knochen“ bekannt wurde und berüchtigt war. Ein Friedhof, gepflastert mit dem Blut, dem Leid und der Qual der Insassen der Zwangsarbeitslager.

„Mit dem Zerfall der Sowjetunion brach in der Kolyma-Region die Wirtschaft zusammen, die Abwanderung begann. Jetzt sind viele Siedlungen in der Region verlassen, einstige Flugverbindungen zu abgelegenen Siedlungen wurden eingestellt.“

„Die ‚Erzählungen aus Kolyma‘ des russischen Schriftstellers Warlam Schalamow haben mir den Anstoß für mein Projekt gegeben“, erzählt der Fotograf Emile Ducke. „Er hat in dem Buch seine eigene Haft in den Arbeitslagern der Kolyma-Region verarbeitet; als Opfer des Großen Terrors unter Stalin kam er 1937 nach Magadan. Sein Bericht über den ‚Kältepol der Grausamkeit‘ hat mich nicht mehr losgelassen. Ich wollte verstehen, wie mit der Erinnerung an die Schrecken des Gulags in dem Gebiet heute umgegangen wird.“

Im tiefsten Winter machte er sich auf den Weg – warme Kleidung, gute Handschuhe, ausgefeilte Logistik – bei Temperaturen von bis zu minus 38 Grad Celsius. Ein gängiges Lagersprichwort, das die Härte des Klimas in der Kolyma-Region betonte, lautete damals: „Kolyma, du wunderbarer Planet – zwölf Monate Winter, der Rest ist Sommer.“ Emile Ducke wollte genau diese Kälte wiedergeben, mit dem Ziel, jene Gegend zu dokumentieren, die heute an einem Scheidepunkt steht: Die letzten Zeitzeugen schwinden, und die Überreste der Lager versinken im Schnee.

„Für jeden Streckenabschnitt starteten wir stets früh, um am nächsten Ort spätestens am Nachmittag anzukommen, damit wir nicht als Letzte auf der Straße unterwegs waren. Wenn man liegen bleibt, ist die Gefahr groß, ohne Hilfe über Nacht zu erfrieren.“

Auf seiner Route entlang des Kolyma-Stroms von Magadan bis Jakutsk traf er sich mit ehemaligen Häftlingen des Gulags, er besuchte Gottesdienste und unterhielt sich mit den verbliebenen Bewohnern fast verlassener Siedlungen. Alle teilten mit ihm ihre Biografien, zeigten ihm alte, verblichene Fotos, ließen ihn ihren Alltag beobachten. Und so sind seine Bilder genau das geworden: ein Konglomerat aus dem Früher und dem Heute, aus Vergangenheit und Gegenwart, aus Schmerz und Hoffnung. „Ich wurde Zeuge, wie sich die Nachfahren von Gulag-Häftlingen unter dem Denkmal ‚Maske der Trauer‘ versammelten, an dem die Namen der Opfer der Repressionen verlesen wurden“, sagt Emile Ducke. „In manchen Siedlungen haben Einwohner kleine Museen und Denkmäler errichtet, um an die tragische Vergangenheit der Region zu erinnern, etwa in Sussuman, wo ich Mikhail Shibisty mit dem Holzkreuz fotografierte, das er neben den Gräbern ehemaliger Gefangener aufgestellt hat.“ Obwohl seit den Gräueltaten der Stalin-Ära fast 70 Jahre vergangen sind, ist die „Straße der Knochen“ für die Bewohner am Kolyma-Strom immer noch präsent, verbinden die Menschen die ferne Geschichte mit ihrem jetzigen Leben. In sensibler, poetischer Weise und in malerischen Farben zeichnet der Fotograf die Spuren des Unglücks nach, die immer noch nicht verweht sind.

„Die Shortlist-Nominierung ist für mich eine riesige Anerkennung meiner Arbeit. Den Fotoessay zwischen all den beeindruckenden Geschichten der anderen Fotografinnen und Fotografen zu sehen, ist ein tolles Gefühl.“

Emile Ducke

Emile Ducke wurde 1994 in München geboren und lebt seit vier Jahren in Moskau. Von dort aus arbeitet er sowohl an persönlichen Projekten als auch im Auftrag verschiedener internationaler Publikationen. Für die „New York Times“ etwa dokumentierte er die Auswirkungen des schmelzenden Permafrosts oberhalb des Polarkreises und fing Szenen des traditionellen Lebens in Tschetschenien ein. Zahlreiche Fotoessays erschienen auch in der „Washington Post“, „National Geographic“ und dem „Spiegel“. Für seine Berichterstattung über Osteuropa erhielt er den n-ost-Preis.

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Porträt: © Tamina-Florentine Zuch