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Dominic Nahr: „Nothing to see here”

Finalist 2017: Dominic Nahr

Am 11. März 2011 kam es vor der Küste Japans zum schwersten Erdbeben in der Geschichte des Landes. Der dadurch ausgelöste Tsunami kostete schätzungsweise 20 000 Menschenleben, zerstörte Tausende Häuser und traf das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi mit voller Wucht – es kam zum Super-GAU, die Heimat unzähliger Menschen wurde zur Sperrzone erklärt. Dominic Nahr hat das Gebiet seither schon zehn Mal für sein Langzeitprojekt „Nothing to see here“ besucht.

„Die Arbeit in Fukushima ist mühsam, es ist schwer, die richtigen Bilder zu machen. Nichts passiert, nichts bewegt sich und doch ist eine Bedrohung da, die einen Weg auf die Bilder finden muss. Ich war bereits zehn Mal vor Ort, das erste Mal schon kurz nach der Katastrophe. Natürlich wollte ich wissen, was sich seit 2011 verändert hat. Gleichzeitig möchte ich etwas dagegen tun, dass die Menschen und ihre Situation vergessen werden. Ich möchte ihnen eine Stimme geben.

Mit jedem Besuch konnte ich mich freier bewegen. Den Menschen wurde gesagt, dass sie zurückgehen sollen und dass sie sicher seien. Sie sind in Gebiete zurückgekehrt, die viele Bewohner verlassen hatten und manche leben sogar innerhalb der Zwanzig-Kilometer-Zone rund um Daiichi, die man zuvor nicht einmal betreten durfte. Sie sind zum Alltag zurückgekehrt. Die Zehn-Kilometer-Zone betreten meist nur die Nukleararbeiter. Die hoch belasteten Gebiete sind komplett gesperrt und können nur mit einem speziellen Pass betreten werden, er wird an Familien vergeben, die Häuser und Geschäfte in diesem Gebiet haben, damit sie diese von Zeit zu Zeit aufsuchen können.

„Nichts passiert, nichts bewegt sich – und doch ist eine Bedrohung da, die einen Weg auf die Bilder finden muss.“

Ich habe eine Mutter getroffen, die sich Sorgen um ihre Kinder macht und sie immer nur für kurze Zeit draußen spielen lässt. Eine andere Frau, die ich getroffen habe, hat ihren Mann durch Krebs verloren, er war Nukleararbeiter. Ein Jahr nach seinem Tod ist auch sie verstorben. Sie hinterließen zwei Töchter. In einem Ort in der Sperrzone läutet jeden Tag mittags und abends eine Glocke, die die Menschen früher zum Essen gerufen hat. Aber heute ist niemand mehr da, der zum Essen kommt. Das hinterlässt bedrückende Gefühle, aber ich möchte trotzdem über einen Zeitraum von zehn Jahren immer wieder an den Ort der Katastrophe zurückkehren, um zu dokumentieren, was sich verändert – in Fukushima und in der Politik der Regierung in Tokio.“

Dominic Nahr

Nahr wurde 1983 in der Schweiz geboren, aufgewachsen ist er in Hongkong. Er hat an der Ryerson University’s School of Image Arts in Toronto, Kanada, Film studiert. 2004 begann er als Fotograf für die „South China Morning Post“ in Hongkong zu arbeiten, 2006 ging er für AFP nach Osttimor. Seither war Nahr weltweit in Krisengebieten wie dem Kongo, dem Sudan, Gaza und dem Irak tätig. Er ist Gewinner zahlreicher Preise, u. a. des Leica Oskar Barnack Newcomer Award 2009 für eine Reportage über den Bürgerkrieg im Kongo, des World Press Photo Award und des Magnum Foundation Emergency Fund.