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Viktoria Sorochinski: „Lands of No-Return”

Finalist 2017: Viktoria Sorochinski

Seit mehr als zehn Jahren bereist Viktoria Sorochinski für ihr Langzeitprojekt „Lands of No-Return“ immer wieder die ländliche Umgebung der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Sie sucht dort nach den Wurzeln ihrer Familie und nach den Erinnerungen an ihre Kindheit. Mit den Einwohnern verschwinden in dem Landstrich Leben, Kultur und Traditionen. Die Fotografin berichtet über ihre Ideen und Erinnerungen.

„Das erste Mal, dass ich in der Ukraine fotografieren wollte, war, als ich dort zum ersten Mal nach vielen Jahren im Ausland dieses besondere Dorf Tarasovka besuchte, in dem mein Großvater und meine Großmutter lebten. Am Anfang wollte ich nur das Dorf fotografieren, und deshalb sollte mein Projekt auch „Tarasovka“ heißen. Ich hatte eine starke nostalgische Bindung an den Ort. Ich sah die miserablen Bedingungen dort, sah, dass die Zeit stillstand, als ob der technologische Fortschritt dort nie angekommen wäre. Andererseits war es so traurig, dass es den einst quicklebendigen Alltag nicht mehr gab. 

„Ich denke, dass diese Serie für mich von Anfang an einen anderen Zweck erfüllte als meine sonstigen Arbeiten. Es ging nicht darum, hehre psychologische Botschaften zu verbreiten oder um das Spiel mit Fakten und Fiktionen, sondern um die Erinnerung an diese Menschen und Orte, die wir gerade verlieren.“

In Tarasovka lebten fast nur noch alte Menschen und es wurden immer weniger. Es gab kaum Geschäfte, und wenn, hatten sie nicht viel im Angebot. Von medizinischer Versorgung oder Apotheken ganz zu schweigen. Die jungen Leute wanderten in die Städte aus, weil es im Dorf absolut keine Arbeit gab. Die, die blieben, werden in der Regel zu Alkoholikern – sonst gibt es ja nichts zu tun. Einigen Alten ging es besser als dem Rest, denn ab und zu kam die Familie vorbei, um Lebensmittel und Medikamente zu bringen. Aber viele wurden von ihrer Familie vernachlässigt. Sie waren zu alt, um die Felder zu bestellen oder Tiere zu halten, aber sie versuchten, etwas anzubauen, weil das die einzige Nahrungsquelle war. Als ich zu recherchieren begann und mit den Leuten zu sprechen, stellte sich heraus, dass das die allgemeine Situation des ländlichen Lebens in der Ukraine ist. Die Regierung kümmert sich nicht um diese Menschen. All das trieb mich an, an diesem Projekt zu arbeiten.

Ich fotografierte die Dörfer erstmals von 2005 bis 2006 und kehrte in dieser Zeit immer wieder dorthin zurück. 2009 war ich erneut einige Male in der Ukraine, um die Dörfer zu fotografieren. Mir wurde allmählich klar, nach welchem Zugang ich eigentlich suchte – ich wollte einfache Porträts dieser Menschen und ihrer Häuser machen, mit denen sie eins geworden waren. Ich merkte, welch hartes Leben dieses Menschen führten und dass ihre Geschichten und Traditionen in Erinnerung bleiben sollten, ihre Gesichter, ihre Blicke, ihre Hände, ihr Zuhause und ihr Alltag. Das musste festgehalten werden, bevor es für immer verschwindet.“

Viktoria Sorochinski

Die 1979 geborene Ukrainerin erwarb nach Aufenthalten in Russland und Israel 2006 ihren B.A. in Kunst an der Concordia University in Montreal und erwarb 2008 einen M.A. in Kunst mit Schwerpunkt Fotografie an der New York University. Ihre Arbeiten wurden bisher in 16 Ländern gezeigt und in 50 internationalen Publikationen veröffentlicht. Ihre Monografie „Anna & Eve“ erschien 2013 bei Peperoni Books. Sie wurde bereits mehrfach international ausgezeichnet, darunter mit dem LensCulture Emerging Talent Award 2016. Seit 2013 lebt Sorchinski in Berlin.

Porträt © Andrej Glusgold