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Anastasia Taylor-Lind – 5km from the Frontline

Anastasia Taylor-Lind – 5km from the Frontline

Behutsamkeit sei ihre Herangehensweise an diese Serie gewesen, sagt Anastasia Taylor-Lind. Und so fuhr und fährt sie regelmäßig in die Ukraine, um dieselben Familien zu besuchen, mit ihnen Zeit zu verbringen und ihnen zuzuhören. Entstanden sind dabei Bilder der Nähe und des Lebens – auch wenn die Geschichte im Schatten eines Kriegs spielt.

Zwei hoffnungsvolle Farben zieren die Fahne der Ukraine. Das Blau symbolisiert den Himmel, das Gelb das Korn. Einst galt die Ukraine als größte Kornkammer Europas, kilometerweit leuchteten die Felder durch das Land. Und die Halbinsel Krim war das Paradies für den Sommerurlaub, ein Traum für alle Sowjetbürger zwischen Palmen, Weite und Schwarzem Meer. Heute herrscht Russland wieder über die Krim und in der Ostukraine kämpfen seit sechs Jahren reguläre Armee und Separatisten gegeneinander – ein fast vergessener Krieg. „Meine Herausforderung ist es, trotz mangelnden internationalen redaktionellen Interesses weiterhin über den Konflikt und die Menschen zu berichten, deren Leben von diesem Krieg betroffen ist“, sagt Anastasia Taylor-Lind. „Ich dokumentiere das Leben der Zivilbevölkerung entlang der Front in der Ostukraine, um zu zeigen, wie die Menschen trotz der zerstörten Infrastruktur, der starken Militärpräsenz und der Spaltung vieler Gemeinden ihre Wege zum Leben finden.“

„Es ist unsere Aufgabe als Journalisten, die Herausgeber davon zu überzeugen, dass das eine wichtige Geschichte ist und dass sie noch erzählt werden muss.“

Eine Familie grillt Schaschlik an einem See, ein Pärchen schaukelt auf einem Spielplatz sein Kind in den Schlaf, ein Vater geht mit seinen Kindern angeln. Alles wirkt zunächst wie ein ganz gewöhnlicher Sommer, der auf den Bildern von Taylor-Lind zu sehen ist. Die Einwohner gehen ihrem Alltag nach, verbringen ihre Freizeit mit Freunden oder Angehörigen. Aber nichts ist wie es scheint, denn ihr Leben ist genauso vom Krieg gezeichnet wie das bombardierte und bröckelnde Haus, in dem sie wohnen. Für etwa sechs Millionen Menschen, die in den Gemeinden an der ostukrainischen Frontlinie leben, gehört der Krieg zum Alltag; nur wenige Kilometer vom Granatfeuer entfernt, leiden sie unter dessen verheerenden Folgen. Kinder werden mit dem Wissen groß, dass um sie herum ein Minenfeld lauert. An vielen Orten fehlt es an Lebensmittelgeschäften, Geldautomaten, Postämtern, ärztlicher Versorgung. Auf einem Foto steht eine Mutter am Grab ihres Sohnes, der versehentlich durch eine gefundene Handgranate ums Leben kam. Auf einem anderen wartet eine Frau im Wahllokal darauf, ihre Stimme abzugeben. Und so erzählt die Serie „5km from the Frontline“ gleichsam von Verlust und Aufbruch, von Widrigkeit und Anpassung. „Die Menschen sind widerstandsfähig“, meint Anastasia Taylor-Lind, „sie finden ihre Wege, auch in den schwierigsten Situationen. Im Donbass geht das Leben weiter, wenn auch nicht so normal wie anderswo – Menschen heiraten, erziehen Kinder, bestellen das Land, gründen neue Unternehmen.“

Zwei Wochen lang reiste die Fotografin im vergangenen Jahr zusammen mit der Journalistin Alisa Sobokova in die Region, die Serie ist nur ein Teil ihrer gemeinsamen Arbeit, die sie seit sechs Jahren verfolgen. Seitdem versuchen sie, die vom Krieg Betroffenen auf eine humanistische und einfühlsame Weise zu präsentieren und verzichten auf eine klischeehafte Darstellung als Kämpfer, Flüchtlinge, Separatisten oder Opfer. Viele ihrer Protagonisten sind zu Freunden geworden. Und von vielen Begegnungen, erzählt Taylor-Lind, habe sie gelernt, dass der Krieg nicht wirklich so aussieht, wie wir ihn durch Fotos, aus dem Kino oder Büchern zu kennen glauben. Sondern, sagt sie: „Der Krieg sieht wie ein ganz gewöhnlicher Tag aus – an den meisten Tagen –, aber plötzlich nicht mehr.“ 

Anastasia Taylor-Lind

Anastasia Taylor-Lind wurde 1981 in Swindon, England geboren und lebt in London. Als Fotojournalistin publiziert sie für namhafte Magazine wie „National Geographic“, „Time“, „The New York Times“, „The Telegraph“ oder „Geo“, unter anderem zu den Themen Frauen, Bevölkerung und Krieg. Seit mehreren Jahren bereist sie die Ukraine, dort dokumentiert sie die Auswirkungen des russisch-ukrainischen Konflikts auf die Zivilbevölkerung in der östlichen Region rund um den Donbass. Ihr erstes Buch „Maidan – Portraits from the Black Square“ erzählt von der ukrainischen Revolution auf dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew 2014, die den Regierungswechsel einleitete.

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Porträt: © Isabella De Maddalena