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Rafael Vilela – Forest Ruins: Indigenous Way of Life and Environmental Crisis in the Americas’ Largest City

Rafael Vilela – Forest Ruins: Indigenous Way of Life and Environmental Crisis in the Americas’ Largest City

Im äußersten Norden der brasilianischen Metropole São Paulo liegt ein winziges Reservat für 700 Angehörige des indigenen Volks der Guarani Mbyá. Sie leben dort in sechs Dörfern in einer grünen Oase am Rande der riesigen Stadt, die zum größten Teil auf Forest Ruins, „Waldruinen“, errichtet wurde – ein Begriff, den der indigene Philosoph und Aktivist Ailton Krenak geprägt hat.

Krenak vertritt die Ansicht, dass sich westliche Menschen der Erde entfremdet haben, die von ihren Konzernen verschlungen wird. Er geht nicht davon aus, dass das Konzept Stadt jemals wieder aufgegeben wird, hofft aber, dass zumindest unsere Abhängigkeit von einem alten Siedlungskonzept noch einmal neu bewertet werden könnte und sich mehr Menschen an einem harmonischen Zusammenleben mit der Natur orientieren, so wie es viele indigene Völker in den Reservaten, die man ihnen gelassen hat, vorleben – seien es die Krenak am Rio Doce oder die Guarani Mbyá in ihrem knapp fünf Quadratkilometer großen Reservat am Pico do Jaraguá, dem kleinsten in Brasilien, aber ein Großteil dessen, was auf dem 1500 Quadratkilometer umfassenden Stadtgebiet von São Paulo vom Biom des Atlantischen Regenwalds übrig geblieben ist.

„Später verstand ich, dass es bei ‚Forest Ruins‘ um meine Beziehung zu São Paulo geht, die Stadt, in der ich geboren wurde, und zu diesen Menschen, die aller Gleichgültigkeit und Ignoranz der Weißen zum Trotz schon immer dort waren.“

Als Rafael Vilela in das Reservat der Mbyá, eines von drei Guarani-Völkern in Brasilien, aufbrach, um den Protest der Indigenen zu dokumentieren, die kurz vor der Pandemie die Errichtung mehrerer Gebäude in der Nachbarschaft ihres Reservats verhindern wollten, ahnte er nicht, dass er mehrere Wochen bleiben und ihn das Projekt auch heute noch beschäftigen würde. „Auf einem rund zwei Hektar großen Grundstück, das Construtora Tenda, eines der größten Bauunternehmen Brasiliens, für die Errichtung von elf Wohntürmen gekauft hatte, waren weniger als einen Kilometer von den Dörfern entfernt schon 500 Bäume gefällt worden, ehe der Protest der Mbyá die Bauarbeiten stoppte.“

„Die Kinder schrien und weinten, weil ihnen Bäume heilig sind. Für die Mbyá ist das Fällen eines Baums das gleiche ist wie das Töten eines Verwandten – nicht nur ein Umweltverbrechen, wie es ein westlich geprägter Mensch vielleicht sähe.“

Vilela engagiert sich seit rund zehn Jahren für die indigene Bewegung in Brasilien. Das erklärt die Nähe und die Intimität vieler Aufnahmen seiner Serie „Forest Ruins“, die sich keineswegs auf plakative Motive vom Kampf der Mbyá beschränkt, sondern auch den Alltag und die Rituale im Reservat zeigt. Der Fotograf blieb dort einige Wochen: „Selbst als Sohn politisch fortschrittlicher Eltern hatte ich nie Kontakt mit der indigenen und ökologischen Realität meiner Stadt. In einer der ersten Nächte, die ich im Reservat verbrachte, hörte ich die jungen Mbyá reden, Witze erzählen und die ganze Nacht lachen. Obwohl ich fast nichts verstand, wurde mir in dem Moment klar, wie ignorant und blind wir Weißen für ihre Kultur und Geschichte sind. Es fühlte sich an, als wäre ich in einem anderen Land und hörte eine Sprache, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Aber es war São Paulo, die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, in der Millionen von Menschen leben und nur sehr wenige wissen, dass die Mbyá vor uns dort waren und immer noch sind, um ihre Gegenwart zu gestalten – und vielleicht unsere gemeinsame Zukunft.“

Rafael Vilela

Der unabhängige brasilianische Fotograf, 1989 in São Paulo geboren, konzentriert sich auf die Dokumentation der wirtschaftlichen und klimatischen Krisen in seinem Heimatland. 2013 gehörte er zu den Gründern des Journalisten- und Aktivistenkollektivs Mídia Ninja, das sich auch der Berichterstattung über den Kampf der indigenen Bevölkerung um Land und für soziale Gerechtigkeit widmet. Seine Arbeiten sind unter anderem in der „Washington Post“, im „Guardian“, bei „The Intercept“, in „Vice“ und „National Geographic“ erschienen.

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Porträt: © Ale Ruaro