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Clara Chichin: „Under the eyes that few minutes exhaust”

Finalistin 2017: Clara Chichin

Betörend schöne, geheimnisvolle Aufnahmen in kontrastreichem Schwarzweiß – das charakterisiert Clara Chichins Serie „Under the eyes that few minutes exhaust“. Doch die Bilder verbindet mehr: Sie sind Abdrücke, die nach einem Verlust zurückbleiben.

Q: Frau Chichin, welche Idee steht hinter Ihrer Serie „Under the eyes that few minutes exhaust“?

A: Die Serie ist Teil der Entwicklung einer Arbeit, die auf das fotografische Bild fokussiert, auf das Sichtbarwerden und die Auslöschung, das Erscheinen und Verschwinden, auf die zeitliche Manifestation, die rätselhafte und poetische Spur wie es François Soulages in „La trace ombilicale“ (Die Nabelspur) ausgeführt hat. Über allem steht die Idee von etwas, das mit Zeit und Abwesenheit zu tun hat. Besessen von der Idee eines Bildes, das verschwindet, versuche ich die Unfähigkeit der Fotografie zu betonen, einen bestimmten Moment festzuhalten. Die Vorstellung von Nichtvollendung, von Fragmentierung und Hohlheit inspiriert meine Arbeit. Ich verstehe Fotografie als den Abdruck, der nach einem Verlust zurückbleibt. Damit versuche ich zurechtzukommen, ich setze wieder zusammen, ich erfinde, ich sehe zu, dass es funktioniert. Die Aufnahme, die kumulierte, bleibende Vision ist der Ausgangspunkt dessen, was ich erschaffe. Die Begegnung mit einem anderen ist so rätselhaft wie die Fotografie, das nährt meinen Prozess und hält mich wach. Wenn ich fotografiere, erschaffe ich die Spuren meines Seins und der Phänomene, die dabei eine Rolle spielen – ich konstruiere meine Gegenwart in der Welt. Die Vorstellung von Trauer, eines Urverlusts ist in meiner Arbeit verankert, ein tief vergrabenes Mysterium, das verstört und fasziniert. Die Bilder, die Spuren sind dazu bestimmt, sich zu wandeln und eine ewige Erneuerung zu erfahren. Soulages schreibt in „La trace ombilicale“: „Die Aufnahme scheitert immer und immer wieder nimmt sie einen neuen Anfang.“

„Ich arrangiere die Fragmente in einem System von Entsprechungen: Stück für Stück komponiere ich ein Ensemble aus Wiederholungen, Echos, Leitmotiven – als schriebe ich ein Gedicht ohne lineares Narrativ, eine imaginäre Reise, mäandernd wie ein Traum.

Q: Als Stilmittel verwenden Sie Schwarzweiß, Unschärfe und Körnigkeit (Rauschen), aber in erster Linie ist es das Licht, das in allen Bildern für eine Überraschung sorgt. Welche Bedeutung haben die extremen Hell-Dunkel-Kontraste?

A: Ich kann nicht sagen, ob diese Kontraste eine bestimmte Bedeutung haben. Sicher, Licht und „dunkler Glanz“ ist wichtig in meiner Arbeit, es gibt diese Abwechslung oder sogar Mehrdeutigkeit von Schillerndem und Blendendem. Aufgrund eines Übermaßes an Licht enthüllt es die Abdrücke, die sonst beinahe in der Dunkelheit verloren gegangen wären. Ich denke oft an eine Maxime, die ich im „Journal“ von Alix Cléo Roubaud gefunden habe: „Mehr Schwarz“. Es gibt den Wunsch die Bilder aus dem Leben, die Momente, die verschwinden, zu transzedieren, sie umzugestalten und zu sublimieren. Diese Stilmittel erlauben mir, die Realität zu filtern.


Q: Die Serie ist als Langzeitprojekt angelegt. Seit wann arbeiten Sie daran und wie hat sie sich im Laufe der Zeit geändert?

A: Der Ursprung der Serie liegt im Jahr 2009, als ich eine erste Mappe für mein Diplom an der Beaux Arts in Paris zusammenstellte. Ich habe sie in Form einer kleinen Tondiashow präsentiert: „Correspondance-s-“ (2009), „And now I’m saying ‘worst and worst’ as he said. Rien. ne s’assagit“ (2012). Dann begann ich „Sous les yeux que quelques minutes épuisent“ (Under the eyes that few minutes exhaust) mit neuen Bildern. Ich verstehe diese Serien als die einzelnen Kapitel derselben Geschichte. Im Juli 2016 habe ich auf Einladung von Anna Alix Koffi, Gründerin des Magazins „Off the Wall“, eine längere Version von „Sous les yeux que quelques minutes épuisent“, die Bilder aus allen Kapiteln enthält, in der Pariser Galerie Les Filles du Calvaire gezeigt. Diese Auswahl baue ich weiter aus und hoffe, sie als Buch veröffentlichen zu können.

Clara Chichin

Die 1985 in Paris geborene Fotografin hat an den Universitäten Paris I und VII ein Diplom in Philosophie und einen Master im Studiengang „Kunst, Literatur und zeitgenössisches Denken“ erworben, bevor sie Fotografie an der Ecole nationale supérieure des Beaux-Arts studierte. Seit ihrem Abschluss 2012 wird sie von der Agentur Hans Lucas Studio vertreten. Chichin war an zahlreichen Ausstellungen beteiligt und hat fünf Bücher veröffentlicht, zuletzt „Au lieu d’effacer en vrac les choses fragiles“. Sie lebt in Montreuil bei Paris.

Foto: © Stéphane Charpentier