Interview Evgenia Arbugaeva

Tiksi: ein sibirisches Märchen in Bildern. Die ausgezeichnete Bildstrecke des Leica Oskar Barnack Award 2013 ist ein eindrucksvolles Werk über die Heimatstadt der Fotografin Evgenia Arbugaeva – zum Teil dokumentarisch, zum Teil fiktional. Tiksi ist eine reale Stadt und liegt an der russischen Nordpolarmeerküste in der autonomen Republik Sacha (Jakutien). Rund 5000 Menschen leben dort unter schwierigen klimatischen Bedingungen. LFI sprach mit Evgenia Arbugaeva über ihre preisgekrönte Serie.

LFI: Wie viel Autobiografie steckt in Ihrer Arbeit, was war Ihr persönlicher Impuls?

Evgenia Arbugaeva: Die Serie ist in gewisser Weise autobiografisch. Ich wurde in Tiksi geboren und verbrachte meine Kindheit dort. Als ich acht Jahre alt war, zog meine Familie in die größere Stadt Jakutsk. Dort leben meine Eltern noch heute. Ich vermisste damals Tiksi sehr, nicht vergessen konnte ich die große Tundra ohne Anfang und ohne Ende, den starken Wind, der einen an weit entfernte Orte mitzunehmen schien, die Schneestürme und die Polarnacht mit dem magischen Licht, meine Freunde und Nachbarn. Mein späteres Leben hat mich an verschiedenste Orte gebracht, ich lebte in großen Städten wie Moskau und New York, reiste ausgiebig, aber stets bewahrte ich mir die Erinnerung an die kleine Stadt Tiksi – meine besondere, meine perfekte Welt. Wie es häufig passiert, begannen sich meine Kindheitserinnerungen in surreale Bilder zu verwandeln, und ich fragte mich, ob es diesen Ort wirklich so gibt, wie ich ihn erinnere. 19 Jahre später ging ich zurück und fand Tiksi – nach dem Fall der Sowjetunion – fast aufgegeben vor. Die leuchtenden Farben der Häuser waren verblasst, ich sah vernagelte Fenster und verlassene Schiffe, die im Meerwasser vor sich hinrosteten.

LFI: Wer sind die Personen, die in dem Projekt auftauchen?

Evgenia Arbugaeva: Die Protagonistin der Geschichte ist Tanja. Ich traf sie, als ich das erste Mal mit meiner Kamera in Tiksi ankam. Tanja und ihre Mutter saßen am Ufer des Meeres in der Nähe eines Feuers und sahen sehr traurig aus. Ich begann ein Gespräch und erfuhr, dass an dem Tag Tanjas älterer Bruder und ihre ältere Schwester in eine große Stadt gezogen waren, um aufs College zu gehen. Ich erzählte ihnen meine Geschichte. Tanja erinnerte mich an meine eigene Kindheit. Sie hatte ein ähnliches Faible für das Meer und die Tundra und einen ähnlichen Drang, ihre Umwelt zu erkunden. Sie wurde schnell meine Freundin und meine
Führerin durch Tiksi.

LFI: Wie fotografieren Sie?

Evgenia Arbugaeva: Ich mache nicht besonders viele Fotos und trage die Kamera selten bei mir. Wenn ich einen Ort oder eine Situation sehe, die ich mag, dann komme ich immer wieder dorthin zurück, zu verschiedenen Tageszeiten, verschiedenen Jahreszeiten. Immer mit der Hoffnung, dass sich der Ort für mich öffnet. Ich kann da sehr stur sein. In der Serie gibt es ein Motiv, von dem ich über dreißig Variationen der gleichen Ansicht habe. Sie sind in zwei Jahren entstanden. Während der Arbeit am Tiksi-Projekt versuchte ich, den richtigen Ton für die Serie zu ertasten. Ich suchte die Motive, die den Bildern meiner Erinnerung entsprachen.

LFI: Wird es Ausstellungen mit Ihrem Tiksi-Projekt geben?

Evgenia Arbugaeva: Ich habe bald eine Ausstellung in der Sankt-Petersabtei im belgischen Gent, vom 6. Juni bis zum 1. September, und eine während des Fotofestivals Rencontres d’Arles vom 1. bis zum 7. Juli. In Paris werden die Bilder in der In Camera Galerie von 30. Januar bis zum 15. März 2014 zu sehen sein.

Evgenia Arbugaeva

Geboren 1985 in Tiksi, Sibirien; lebt und arbeitet in Russland und New York. BA-Abschluss in Kunstmanagement an der Internationalen Universität Moskau; 2009 Studium am ICP, New York. Für Tiksi wurde sie 2012 mit dem Magnum Emergency Fund ausgezeichnet.

www.evgeniaarbugaeva.com