Interview Jan Grarup

Als Anfang 2010 in Haiti ein Beben die Erde aufbrach, war Jan Grarup in Dänemark. Er reiste nach Haiti, das er zuvor mehrfach besucht hatte, um von dort für internationale Magazine zu berichten. LFI sprach mit dem Fotojournalisten.

LFI: Wir haben 2005 schon einmal in LFI eine Ihrer Reportagen veröffentlicht – mit Fotos des verheerenden Erdbebens im iranischen Bam. Nun gewinnen Sie mit Ihrer Serie über die Katastrophe in Haiti den Leica Oskar Barnack Award. Was bedeutet es für Sie, bei solchen Desastern als Beobachter zu arbeiten?

Jan Grarup: Es ist immer sehr schwierig, solche Ereignisse „nur“ zu beobachten. Ich versuche immer, alles zu geben. Wenn ich all das Leiden an einem Ort wie Haiti nach dem Erdbeben sehe, dann fühle ich mich verpflichtet dazu. Als Fotografen haben wir eine Verantwortung, das zu tun, um die Geschichten so ehrlich und so intensiv wie möglich zu erzählen. Das ist eine schwierige Aufgabe.

LFI: Ihnen gelingt es, den Bildern der Verwüstung eine Unmittelbarkeit zu verleihen, die es unmöglich macht, sich zu entziehen. Wir werden Teil der Erschütterung, können uns nicht in Sicherheit zurückziehen und „nur“ betrachten. Wie nähern Sie sich einem solchen Thema?

Jan Grarup: Ich selbst bin Vater von vier Kindern im Alter von acht Wochen bis 14 Jahren. Ich denke oft darüber nach, wie ich das alles machen würde, wenn ich in der Lage der Menschen wäre, die ich fotografiere. Aber am wichtigsten ist es, dass ein Fotograf bereit ist, sich einzufühlen und mit dem Herzen dabei zu sein. 

LFI: Warum fotografieren Sie das weltweite Elend? Was treibt Sie an?

Jan Grarup: Ich denke, dass wir, die Menschen in den wohlhabenderen Ländern, verpflichtet sind, uns an den Orten zu engagieren, an denen die Menschen fast nichts zum Überleben haben. Fotojournalismus kann potenziell helfen, wenn die Geschichten mit viel Mitgefühl, Tiefe und dem Herzen erzählt werden. Ich hoffe, dass meine Arbeit dazu verhilft, dass Menschen über das Leben reflektieren …

LFI: Wie gewinnen Sie selbst wieder Abstand zu dem, was Sie während Ihrer Reportagen gesehen haben?

Jan Grarup: Das kann ich nicht. Die persönlichen Folgen sind für mich als Mensch und Vater vielschichtig. Bei mir wurde außerdem „posttraumatischer Stress“ diagnostiziert, der durch meine Arbeit ausgelöst wurde. Dennoch möchte ich nichts anderes tun. Ich denke, dass diese Arbeit wichtig ist.

LFI: Sie fotografieren oft in Katastrophengebieten – verzweifeln Sie nicht daran, dass Sie vor Ort nicht helfen können?

Jan Grarup: Ich betrachte Fotojournalismus als einen Weg, den Menschen dabei zu helfen, mehr zu verstehen. Ich will damit nicht sagen, dass meine Arbeit dabei geholfen hat, aber ich hoffe es ganz ehrlich und inständig.

LFI: Wie gelingt es Ihnen, einerseits vieles zu zeigen und andererseits eben nicht alles? Sie schaffen es immer, den Menschen in Ihren Bildern respektvoll zu begegnen; Sie verschleiern nichts, stellen aber auch nichts bloß.

Jan Grarup: Ich habe immer viel Respekt vor den Menschen, die ich fotografiere. Ganz am Anfang meines neuesten Buchs „Shadowland“ – für das Seine Heiligkeit der Dalai Lama das Vorwort geschrieben hat – bedanke ich mich bei all jenen Menschen, die mich zu einer Zeit in ihr Leben gelassen haben, als es für sie am schmerzvollsten war. Für mich sind Zeit, Herz, Respekt und Einfühlungsvermögen absolut wesentlich.

LFI: Katastrophen sind „dankbare“ Sujets für viele Journalisten. In Ihren Bildern aber nähern Sie sich ganz vorsichtig dem Gesehenen; oftmals enthüllen sich entscheidende Details erst beim genauen Betrachten. Wie wichtig ist Ihnen das bewusste Komponieren eines Bildes?

Jan Grarup: Ich denke nicht, dass meine Arbeit von Katastrophen „profitiert“, aber ich weiß, was Sie meinen. Ich verstehe meine Arbeit als vielschichtig und hoffe, dass sie mehr Bedeutung erhält, wenn man sie intensiver betrachtet. Prinzipiell könnte man sagen, dass es an den Betrachtern liegt, wie viele Informationen sie aus meinen Bildern ziehen wollen.

LFI: Wie wichtig ist Ihnen das Arbeiten an freien Projekten und Büchern?

Jan Grarup: Ich arbeite ständig an verschiedenen großen Projekten; im Moment arbeite ich an einem Projekt über Kindersterblichkeit in der Welt. Außerdem beende ich gerade die Arbeiten an meinem Buch „And Then There Was Silence” über den Genozid in Darfur.

LFI: Mit Ihrer Art der Fotografie gelingt es Ihnen, dass man sich an die Ereignisse erinnert, lange nachdem sie aus den Nachrichten verschwunden sind. Wie wichtig ist Ihnen der Aspekt des Erinnerns in Ihrer Arbeit?

Jan Grarup: Für mich ist es wichtig, dass man sich auch dann daran erinnert, was in der Welt los ist, wenn die eher schnellen Medien den Ort wieder verlassen haben. Eine Geschichte verschwindet nicht, nur weil die Presse weg ist. Es ist nicht so wichtig, dass man sich gerade an
meine Bilder erinnert, solange man sich an das Thema erinnert und an das, was jenseits des eigenen Tellerrands passiert.

LFI: Vielen Dank für das Gespräch.

Jan Grarup

Geboren 1968 in Dänemark; lebt in Kopenhagen, Mitbegründer der Fotoagentur NOOR Veröffentlicht u.a. in Newsweek, The Guardian, Stern, Geo, Paris Match. Zahlreiche Preise. Aktuelles Buchprojekt: „And Then There Was Silence“ über den Genozid in Darfur.

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