Interview Christian Caujolle

Reportagen aus Krisengebieten, persönliche Fotoessays, künstlerische Projekte – die Einreichungen zum Leica Oskar Barnack Award 2015 waren so vielfältig wie die aktuelle Fotoszene selbst. In der Jury setzte der französische Kurator Christian Caujolle sich mit den Werken auseinander. LFI sprach mit ihm.

LFI: Gleich vorweg, Herr Caujolle – hat Ihr Favorit gewonnen?

Christian Caujolle: Ja! Weil Engström gleichzeitig eine große ästhetische Kohärenz und Freiheit, ein echtes Wagnis und totales fotografisches Engagement bewiesen hat und die Möglichkeiten und Grenzen des Mediums auslotet.

LFI: JH Engström ist überzeugt, dass seine „Erzählung“ den Betrachter veranlasst, seinen eigenen, einzigartigen Weg darin zu finden. Was haben Sie gefunden?

Caujolle: Eine Art, eine Distanz zur Welt zu markieren, die sich variabel und flüssig gestaltet, mit Rhythmen, die Raum für Interpretation lassen, während sie gleichzeitig eine sehr reale Präsenz zeitigt. Diese Fotografie gibt mir das Gefühl, durch die Welt zu streifen und auf Details, Ansichten und Perspektiven aufmerksam gemacht zu werden, die mich erstaunen, weil sie nicht meine gewohnten sind.

LFI: Was haben Sie sich vom Leica Oskar Barnack Award 2015 erwartet?

Caujolle: Dass er zeigt, dass die Fotografie weiterhin ein aussagekräftiges Instrument zur Erforschung und Befragung der Welt ist – was die ausgewählten Arbeiten und die Gewinner mehr als eingelöst haben. Der LOBP eignet sich sehr gut, die derzeitigen Herausforderungen der Fotografie, ihren Reichtum und ihre Vielfalt zu beobachten. Ich habe Arbeiten aus aller Herren Länder entdeckt, die ich noch nicht kannte. Fotografen haben mir ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, die Struktur ihres Ansatzes durch eine akkurate Selektion aufzuzeigen.

LFI: Unterscheiden Sie zwischen klassischer Bildreportage und freien künstlerischen Arbeiten?

Caujolle: Ich mache da keinen Unterschied, das ist kein Kriterium für mich. Die Unterscheidung zwischen Reportage und Kunst, die schon immer die Wahrnehmung und die Positionierung ganzer Teile der Dokumentarfotografie beeinträchtigt hat, behagt mir nicht. Cartier  Bresson ist unzweifelhaft ein Künstler, der, aus vielfältigen Gründen, Reportagen gemacht hat und sie in den größten Magazinen der Zeit veröffentlicht hat. Na und? Die besten Reportagen, die, die mich am meisten berührt haben, sind immer jene gewesen, in denen die Fotografien in der Lage waren, mir Emotionen, Gefühle, Subjektivität zu vermitteln.

LFI: Sehen Sie den LOBP-Ansatz einer „journalistischen Fotografie mit humanistischen Anspruch“ umgesetzt?

Caujolle: Der Begriff des Humanismus und mehr noch seine fotografische Umsetzung haben sich im letzten Vierteljahrhundert stark gewandelt. Wir haben zu viele Arbeiten gesehen, die, von guten Vorsätzen getrieben, nur Klischees wiederholt haben. Jeder ist von dem Bild eines hungernden Kindes in Afrika betroffen. Aber was ändert das? In unserem Leben gibt es so viele Bilder, die wir nicht mehr entziffern können, sodass wir – Fotografen wie Bildnutzer – extrem vorsichtig und genau in unserer Praxis, unserer Auswahl sein müssen. Vielleicht besteht heute der wahre Humanismus darin, sich nicht nur selbst die richtigen Fragen im richtigen Moment zu stellen, sondern den Politikern, die dafür da sein müssten, die Probleme zu lösen, die ein Künstler nicht lösen kann. Das können wir tun, indem wir voraussehen, warnen. Und genau dabei entfaltet die formale Auswahl ihre volle Bedeutung. Es gibt eine tiefe und dialektische Beziehung zwischen Ethik, Ästhetik und Politik im Sinne einer richtigen Ordnung des Lebens im Gemeinwesen.

LFI: Sie haben einen Wunsch an die zukünftigen Bewerber frei …

Caujolle: Überrascht mich weiter, so wie ihr es in den letzten 35 Jahren getan habt!

Christian Caujolle

Nach seinem Studium war der 1953 geborene Christian Caujolle leitender Fotoredakteur bei der „Libération“. 1986 gründete er die Fotoagentur Agence VU und 1998 eine Galerie gleichen Namens. Er war 1997 künstlerischer Leiter für Rencontres d’Arles und Mitglied in vielen internationalen Jurys. Außerdem hat er mehrere Bücher veröffentlicht. Christian Caujolle unterrichtet derzeit an der École Nationale Supérieure Louis Lumière, schreibt für Fotobücher, ist künstlerischer Leiter verschiedener Fotofestivals und unabhängiger Kurator zahlreicher Ausstellungen. Darüber hinaus ist er als Kolumnist tätig, veröffentlicht Portfolios, arbeitet mit verschiedenen internationalen Druckmedien zusammen und gibt regelmäßig Workshops. 

www.agencevu.com